Die Tore der Basilika Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay stehen weit offen. Im Tympanon darüber thront Christus. Majestätisch hat er die Arme ausgebreitet. Von den Händen gehen Strahlen zu den Häuptern der Apostel zu seiner Linken und Rechten. Der Weltenherrscher sendet seine Jünger zu den Völkern aus, die sich im Türsturz und im rahmenden Bogenfeld drängen. Er erweckt die Menschheit zum Glauben und ruft sie zu sich. Pfingsten und das Ende der Zeiten fallen zusammen und werden eins.

Die reiche Symbolik des um 1130 geschaffenen Hauptportals von Vézelay erschließt sich heute nur mehr Kundigen. Die ungeheure Wirkung, die es in der bilderarmen Zeit seiner Entstehung auf die Gläubigen hatte, kann in der von Reizüberflutung geprägten Selfie-Kultur unserer Tage kaum noch verstanden werden.

Aber für die Menschen des Mittelalters war die Botschaft unmissverständlich. Die zweite Ankunft Christi ist nahe.

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Im Okzident hat die Aufklärung dem Glauben an die unmittelbar bevorstehende Wiederkehr Jesu den Garaus gemacht. Anderswo, im Osten, ist er noch immer vital. In seinem Buch „Die 21“ schildert Martin Mosebach seine Reise zu den Familien von 21 vom IS in Libyen enthaupteten koptischen Wanderarbeitern und beschreibt, wie in der Verehrung der jungen Märtyrer das Gestern, Heute und Morgen in der Vergegenwärtigung Gottes verschmelzen.

Der islamistische Terror, mehr aber noch der zweite Lockdown machen den heurigen Advent für die Kirchen zur besonderen Herausforderung. Erschüttert die Pandemie die letzten Gewissheiten und führt das Aussetzen der Gottesdienste zum finalen Säkularisierungsschub? Dann wäre der Blick, der durch die offenen Tore in die leere Kirche von Vézelay fällt, eine Vorschau auf spirituelle Ödnis. Oder führt die vom Virus skelettierte Vorweihnachtszeit zur Besinnung auf das Wesentliche, auf das Geheimnis der Geburt Jesu? Dann wäre es für alle, die die Schwelle überschreiten, eine Ankunft. Es wäre tatsächlich Advent. Stefan Winkler