An einem Freitag vor zwei Jahren, irgendwo in Österreich, klingelt um 10.50 Uhr das Telefon. Die Sozialarbeiterin der Bezirkshauptmannschaft teilt den überglücklichen Adoptiveltern mit, dass im „Babynest“ des Krankenhauses soeben ein gesundes Kind hinterlegt wurde. Seine Mutter hatte es notdürftig versorgt und in eine Wolldecke gewickelt, wohl in der winzig kleinen Hoffnung, dem Kind wenigstens diesen Schutz vor der Kälte in sein Leben mitgeben zu können. Wie mir dann die Adoptiveltern den kleinen Buben ein paar Tage danach zum ersten Mal in meine Arme legen, muss ich an das Wort von Anton Wildgans denken: „Wer bist du, Mensch, dass du nicht niederknien müsstest vor dem neuen Menschen?“
Deutlicher spricht der Himmel wohl nie zu den Menschen als durch die Geburt eines Kindes. Besser lässt sich für mich auch nicht beschreiben, was wir zu Weihnachten feiern: Letztlich ja „nur“ jene winzig kleine Hoffnung, die fast nach gar nichts aussieht und doch nicht weniger bedeutet als unser unbedingtes Ja zum Leben. Beeindruckend deutlich belegt dieses JA auch die „Babyklappe des Mittelalters“, die sich im Ospedale degli Innocenti, einem Findelhaus in Florenz, befand und heute als eines der bedeutenden Museen der Stadt die zutiefst weihnachtliche Geschichte des Hauses in Erinnerung hält. Im Auftrag der Florentiner Wollzunft wurden dort über fünfhundert Jahre lang Säuglinge und Kinder betreut, die von ihren Müttern weggegeben wurden. Das „Spedale“ (Spital, Heim) war dazu bestimmt, verlassene Kinder aufzunehmen, sie zu erziehen, beruflich auszubilden und ihnen so einen Platz in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Sehr schön bringt dieses Programm im heutigen Museum das Bild der „Madonna der Unschuldigen“ aus der Schule von Granacci (1469–1543) zum Ausdruck, dessen Detail zeigt, wie die Kleinen aneinander Halt finden und sich an die schutzgebende Mutter im roten Kleid klammern. Vor der Außenwand der Kirche des Waisenhauses stand das ganze Jahr über eine Krippe mit fast lebensgroßen Terrakotta-Figuren von Maria und Josef. Zwischen den beiden Figuren befand sich in der Wand ein Fenster, ausgestattet mit einem Gitter und einem Drehtürchen – passend für ein neugeborenes Kind. Die Ordensfrauen, die den Säugling aus der Drehtür nahmen, legten das Kind als Erstes in ein leeres Bettchen zwischen Maria und Josef und vervollständigten so die „Heilige Familie“. Nach einem kurzen Empfangsgebet wurde das Baby dann in der Gemeinschaft des Hauses willkommen geheißen. In schlichtester Weise wurde so im Florenz der Renaissance das unantastbar Göttliche des Menschen zum Ausdruck gebracht.
Heinrich Böll, einer der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit, stellte einmal die Frage, „wie diese Welt aussähe, hätte sich die nackte Walze einer Geschichte ohne Christus über sie hinweggeschoben“, und überlässt es dabei jedem Einzelnen, sich den Albtraum einer Welt vorzustellen, in der Gottlosigkeit als konsequente Lieblosigkeit praktiziert würde. Und er schließt mit dem ermutigenden Satz: „Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen; und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen!“
Wenn Weihnachten auch diesmal dort wie da als Fest empfunden und gefeiert werden kann, dann deshalb, weil Menschen kraft ihrer Fantasie, mit dem, was sie tun, immer noch andere Menschen berühren und in Erstaunen zu setzen vermögen. Nicht, dass dazu nicht auch andere Kulturkreise und Religionen fähig wären; aber zur Weihnacht dürfen sich Christen gegenseitig an das zentrale Geheimnis ihres Glaubens erinnern: Es war ein Geniestreich des jungen Christentums, die Geburt Jesu an jenem Wendepunkt des Jahres zu feiern, ab dem die Tage länger werden, die Nächte kürzer und die Sonne ihren Wettlauf gegen die Finsternis wieder zu gewinnen beginnt. Man vermutet, dass die Kirchenväter dieses Datum wählten, weil die Antike an diesem Tag das Fest des „Sol invictus“, des unbesiegbaren Sonnengottes Mithras, feierte, ein Feiertag, der von Kaiser Aurelian eingeführt worden war und vom Volk überschwänglich gefeiert wurde.
Die Christen „osteten“ daraufhin ihre Kirchen, bauten sie also in Richtung der aufgehenden Sonne, und besangen in ihren Hymnen und Liedern Christus als die „Sonne unseres Heils“, als die Kraft, die „unsre dunkle Nacht“ vertreibt. „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf in unsrer Zeit“, heißt es etwa in einem anderen Hymnus oder auch: „Licht, das uns erschien, Heil, um das wir flehen, Herr erbarme dich!“ Das erinnert mich an eine Textstelle im soeben preisgekrönten literarischen Werk des Peter Handke. In seiner Erzählung „Langsame Heimkehr“ spricht Sorger, die Hauptfigur, gewissermaßen ins Leere: „Ich will kein im Jammer Verschwindender, sondern ein mächtiger Klagekörper sein. Mein Ausruf ist: Ich brauche dich! Aber wen rede ich an? Ich muss zu Meinesgleichen! Aber wer ist Meinesgleichen? In welchem Land? In welcher Stadt?“
Ist es nicht dieser Ruf nach dem anderen Menschen, die Sehnsucht, nicht alleingelassen zu sein, ist es nicht jene Zuversicht, die uns bereits zur Mitte der Nacht auf den Beginn des neuen Tages hoffen lässt? Und sind nicht deshalb die schönsten Weihnachtsgeschichten diejenigen, die durch die Erfahrung von Dunkelheit, Not und Elend hindurch in einzigartiger Weise einen Funken jener Hoffnung schenken, von der wir nicht nur sagen, sie sterbe zuletzt, sondern davon überzeugt sind, dass sie überhaupt nicht stirbt; diese Hoffnung trägt und bleibt für viele, die mir täglich ihr Vertrauen schenken, die einzige Kraft, auf die sie sich verlassen; jene Hoffnung, auf die der französische Philosoph Charles Péguy sein Loblied singt und sie höher einschätzt als die Tugenden des Glaubens und der Liebe.
Er geht dabei sogar so weit, Gott selber sich darüber wundern zu lassen, was ihm da mit dieser Hoffnung eingefallen sein mag, ein kreativer Konstruktionsfehler sozusagen, über den er sich wundern müsse: „Die Liebe, sagt Gott, das wundert mich nicht. Da ist weiter nichts zum Verwundern. So unglücklich sind diese armen Geschöpfe, dass, außer sie hätten ein steinernes Herz, sie doch nicht anders können, als einander lieben. Aber die Hoffnung, sagt Gott, das verwundert mich wirklich. Mich selber. Das ist wirklich erstaunlich. Dass diese armen Kinder sehen, wie das alles zugeht, und dass sie glauben, morgen gehe es besser. Dass sie sehen, wie das alles heute geschieht, und dass sie glauben, morgen früh gehe es besser. Das ist verwunderlich, und das ist entschieden das größte Wunder unserer Gnade. So dass es mich selber verwundert.“ Diese Hoffnung lässt sich überall finden, sie lässt sich auch nie und nirgendwo ganz vertreiben, weil es, wie André Heller in einem seiner Lieder singt, ein „brennendes Verlangen“ gibt „nach Würde und Geborgenheit, nach Zärtlichkeit und Frieden“.
Arnold Mettnitzer