Sinkende Inzidenzen, wiedergewonnene Freiheiten und eine Wirtschaft, die sich offenbar rasch erholt: Selten gab es so viel Anlass für Zuversicht, und das noch dazu gleichzeitig in vielen Ländern. Die Menschen, um diese Jahreszeit ohnehin in Ferienlaune, feiern fast so etwas wie die kollektive Wiedergeburt.
Das ist gut, denn ohne Zuversicht, ohne Optimismus können wir nicht leben. Gerade weil wir täglich im Bann vieler Probleme stehen und scheinbar eine Zeit ständiger Krisen durchleben, brauchen wir andererseits den Ausblick auf Besserung. Die Vorstellung, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt und Schwierigkeiten bewältigt werden können, ist keineswegs ein „schwacher Trost“, sondern ein Grundelement unseres Welterlebens und eine Idee von heilender Kraft.
Schon die Philosophen des Altertums ermunterten zu dieser positiven Haltung. Sokrates zeigte sich sogar als zum Tode Verurteilter fröhlich gestimmt. Das hatte mit seinem Glauben an ein besseres Jenseits zu tun, und mancher mag es als bloßes „Pfeifen im finsteren Wald“ abtun. Aber auch Zweckoptimismus erfüllt seinen Zweck, und sei es nur, wie im Fall Sokrates, ein schöner letzter Moment. "Fürchtet euch nicht" ist eine zentrale These des Christentums. Laut dem Theologen Paul Zulehner steht das 366-mal in der Bibel – für jeden Tag einmal. Denn zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.
Zuversicht macht uns stärker
Dass Angst lähmt, Zuversicht und Zukunftsvertrauen uns aber psychisch und physisch stärker machen, ist längst wissenschaftlich erwiesen. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak skizzierte einst eine "Ethik der Hoffnung" und verknüpfte das Hoffen mit dem Wissen: Mehr Bildung ermöglicht bessere Entfaltung von Talenten und damit eine positive Zukunftssicht. Der Zukunftsforscher Matthias Horx postulierte 2016 nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gar eine "Pflicht zur Zuversicht", um das öffentliche Feld nicht der Angstmache von Populisten zu überlassen.
Als angeordnete Pflichtübung lässt sich der Glaube ans bessere Morgen freilich nicht organisieren. Denn ob das berühmte Glas halb voll oder halb leer ist, ist eine Frage der höchstpersönlichen Interpretation. Bekanntlich hat, nach dem Diktum von Paul Watzlawick, jeder seine eigene Wirklichkeit. Wir blicken immer nur auf einen kleinen Ausschnitt der uns bekannten Welt. Was wir sehen, hat unter anderem mit Charakter, Vorerfahrungen und momentanen Stimmungen zu tun.
Gerade Politik ist ja meist ein Widerstreit kontroverser Wirklichkeitsbilder. Zum Beispiel die Frage der Freihandelsabkommen: Hat der Abbau von Handelsschranken mehr Wohlstand, gar Frieden gebracht? Oder hat er ein neoliberales System von Gewalt, Ausbeutung und Unrecht verfestigt? Dazu kann man zwar endlos Fakten zusammentragen, aber immer bleibt Raum für unterschiedlich gefärbte Antworten. Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.
Warum Negatives oft stärker wahrgenommen wird
Noch mehr gilt das für jede Art von Fragen, die sich erst in der Zukunft erweisen. Ob sich der Klimawandel durch noch mehr Technologie aufhalten lässt oder ob wir Einschränkungen und Verbote brauchen, ist eine Glaubensfrage im Spannungsfeld zwischen Furcht und Zuversicht. Unsere Erkenntnisse reichen nicht aus, um Gewissheit zu schaffen.
Wir wissen also, dass wir noch immer nichts wissen. Statt Objektivität gibt es gelenkte Aufmerksamkeit – biologisch, technisch, wirtschaftlich. Schon unsere Überlebensreflexe bewirken, dass wir Negatives stärker wahrnehmen als Positives. Weil es uns eben potenziell stärker betrifft.
Auch die Technik prägt unsere Weltsicht. Wenn jeder Gewittersturm gefilmt und ins Netz gestellt wird, ergibt sich ein düsterer Gesamteindruck. Sensationsgier und eine Flut schlechter Nachrichten stärken die Vermutung der Dauerkrise. Daran sind wir Medien nicht unschuldig. Umso mehr freut uns, dass viele Leserinnen und Leser sich mehr Positives, Schönes in der Zeitung wünschen. Wir sehen uns da in einer angenehmen Pflicht.
Übertreibungen gibt es freilich in alle Richtungen. Wir haben es ja nicht nur mit aufgebauschten Negativmeldungen zu tun, sondern auch mit frisierten Phrasen und geschönten Werbebotschaften. Die Grundsehnsucht der Menschen nach dem Guten wird kommerziell verwertet. Sie mündet dann in die Botschaft, dass man sich aus Problemen herauskonsumieren kann: Pillen verhindern das Altern, Tinkturen machen schlank, Autos kurven schadstofffrei durch die Gegend. Dass heute jeder Auftritt und jede Tagung als „voller Erfolg“ abgefeiert werden, auch wenn es sich bloß um regulär abgelaufenes Geschehen handelt, hat hohen kabarettistischen Wert. Nur die Behauptung, dass manche Waschmittel "weißer als weiß" waschen, wirkt irgendwie überholt. Auch die Facetten der verkündeten Zuversicht kennen eben ihre Konjunktur.
Faktisch begründete Zuversicht und falsche Heilsversprechen wurzeln im selben Boden: Es geht darum, dass wir dunkle Momente nicht bewältigen können ohne die Aussicht auf bessere Zeiten. Alle Religionen haben zu allen Zeiten Erlösung versprochen, Märchen und Spielfilme handeln von der Überwindung des Bösen durch das Gute. "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch", dichtete Friedrich Hölderlin.
Heute sind es eben oft Technik und Wissenschaft, die uns als Fluchtinseln dienen. Die Corona-Pandemie lässt sich lesen als ein Triumph der Forschung: Die Menschheit stemmt sich gegen eine Last der Natur. Freilich ist auch das eine gefärbte, ideologisch aufgeladene Deutung, und die Gefahr ist groß, dass wir uns wieder einmal irren. Schon im vorigen Sommer wurde ja voreilig das Ende der Pandemie zelebriert.
Und diesmal? Die "vierte Welle" verdüstert die Aussicht auf ein Leben wie früher. Doch das Versprechen der Impfung scheint zu halten. Von Nelson Mandela stammt der gute Rat, sich nicht von Angst leiten zu lassen, sondern von Hoffnung: "May your choices reflect your hopes, not your fears."