Wo Liebe draufsteht, ist häufig alles Mögliche drin: Verliebtheit, Begehren, Besitzgier, Kontrollzwang – nur nicht echte Liebe, sagen Sie in Ihrem neuen Buch „Lieben!“. Liebe ist demnach eine komplette Seinsweise, ein Lebensgefühl?

ROTRAUD A. PERNER: Liebe ist der Umgang mit einer ganz bestimmten Energieform. In unserem Leben hat ja alles mit Energieformen zu tun: Wenn wir müde, konzentriert oder fröhlich sind, lässt sich das ja auch als Energie verstehen. Man könnte auch Kraft dazu sagen, Liebe ist eine besondere Kraft. Und sie ist in vielen Zuständen enthalten, aber wenn es um die reine Liebe geht, fällt vieles weg, was man gemeinhin mit dem Begriff bezeichnet. Es ist wunderbar, wenn gelebte Sexualität aus der Liebe erwächst, aber Liebe ist mehr als das, was mit Fortpflanzung zu tun hat. Liebe ist der Zustand, in dem man von etwas, das außerhalb der eigenen Person liegt, das kann neben einem Menschen auch die Natur oder Kunst sein, ganz erfüllt ist, ohne es besitzen zu müssen. Eine Blume zu lieben, heißt ja nicht, sie zu brechen.

Rotraud A. Perner ist Psychotherapeutin bzw. Psychoanalytikerin und promovierte Juristin, langjährige Universitätsprofessorin für Prävention und Gesundheitskommunikation sowie Sexualtherapie. Nach dem Tod ihres Ehemannes drei Wochen vor dem 40. Hochzeitstag studierte sie auch noch evangelische Theologie. Mittlerweile sind mehr als 50 Buchtitel von Perner erschienen.
Rotraud A. Perner ist Psychotherapeutin bzw. Psychoanalytikerin und promovierte Juristin, langjährige Universitätsprofessorin für Prävention und Gesundheitskommunikation sowie Sexualtherapie. Nach dem Tod ihres Ehemannes drei Wochen vor dem 40. Hochzeitstag studierte sie auch noch evangelische Theologie. Mittlerweile sind mehr als 50 Buchtitel von Perner erschienen. © APA

Sie sagen, dass man das Lieben nur durch das Geliebtwerden lernt – idealerweise durch den Glanz, den wir in unseren ersten Lebensjahren in den Augen unserer Mutter auslösen. Sonst ist jede Chance vertan?

Dieses Video könnte Sie auch interessieren

ROTRAUD A. PERNER: Aber nein – es gibt viele Möglichkeiten, Liebe zu erleben: Eine davon ist ein Haustier, eine andere zum Beispiel Musik. Große Künstler drücken Liebe in Musik aus. Wesentlich ist, dass wir unsere Gefühlszustände sozusagen eingespiegelt bekommen. In dem Moment, in dem wir bedingungslos geliebt werden, ohne dass etwas Bestimmtes von uns erwartet wird, bilden sich in uns Wahrnehmungsnervenzellen des Liebens, das geht nie mehr verloren. Und irgendjemanden, der liebevoll auf ein Kind reagiert, gibt es so gut wie immer.

Im Laufe des Lebens scheinen viele ihre Liebesfähigkeit aber wieder zu verlieren.

ROTRAUD A. PERNER: Das liegt an äußeren Umständen, erlittenen Ungerechtigkeiten und Beschimpfungen. Ich kenne viele, die sich wundern, dass jemand schlecht zu einem ist, dem man nichts getan hat. Das hat häufig nichts mit der eigenen Person zu tun, sondern dass man zum Beispiel irgendeinem Verwandten ähnlich sieht, den der andere nicht mag. Man erlebt dann ein Verhalten, das eigentlich für jemand anderen gedacht ist. Es gibt Erklärungen, die sich Betroffene ohne therapeutischen Beistand einfach nicht zu denken trauen.

Damit eine Liebesbeziehung gelingt, sollte man also möglichst seine Kindheitserlebnisse gut aufgearbeitet haben?

ROTRAUD A. PERNER: Man muss sie nicht zeitintensiv analysieren, es hilft aber, darüber nachzudenken, wo man ungerecht, lieblos, behandelt wurde. Dann findet man vielleicht Reaktionsmuster, die einen hindern, unbelastet in eine Liebesbeziehung hineinzugehen, weil man sich zum Beispiel bemüht, so zu sein, wie einen die Eltern und andere Bezugspersonen haben wollten. Die meisten scheuen diese Reflexion aber, weil dabei alte Schmerzen hochkommen können.

Film, Fernsehen und Internet liefern uns eine Unzahl von Klischees in Sachen Liebe und Beziehungsfähigkeit. Was taugt heutzutage überhaupt noch als gutes Vorbild für Kinder? Gibt es einen Kompass für Eltern?

ROTRAUD A. PERNER: Ein gutes Vorbild ist man, wenn man in der Familie Gespräche über das Thema führt, bei dem Kinder zuhören können. Ich habe es in meiner Ehe immer so gemacht, dass wir richtige Demonstrationsgespräche geführt haben: „Wie findest du das? Hast du das gesehen?“ Das machten wir primär, damit die Kinder mitreden konnten. Eltern sollten immer kritisch nachfragen: „Findest du das in Ordnung?“ Lieben lernt man immer in der Beziehung zu einer Person, die die Geduld hat, auf den anderen einzugehen.

Ein Fluch unserer modernen Leistungsgesellschaft ist allerdings, dass alles immer schnell gehen muss. Liebe braucht hingegen Zeit. Sehen Sie einen Ausweg?

ROTRAUD A. PERNER: Ich gehe davon aus, dass wir alle uns von Zeit zu Zeit die Mühe machen, nachzudenken, was gut gelaufen ist und was schlecht. Das kann halt auch in Grübelsucht ausarten. Aber grundsätzlich sollte man einmal in der Woche Bilanz ziehen. Da können Eltern Vorbild sein, indem sie regelmäßig ein Familien- oder Partnergespräch führen, sagen, was gut war oder nicht wieder vorkommen soll. Das ist eine gute Möglichkeit, sich zu überlegen, wie man mit sich selbst umgeht.

Das klingt nach Beziehungsarbeit, nach echter Anstrengung. Nimmt das der Liebe nicht jeglichen Zauber?

ROTRAUD A. PERNER: Unter Beziehungsarbeit stellen sich viele tatsächlich vor, sie müssten an einer Beziehung herumschleifen wie an einem Rohdiamanten. So verstehe ich den Begriff aber nicht. Für mich geht es hier um eine Arbeit, die ich allein mache, indem ich über meine Fantasien, Wünsche und Ängste nachdenke und meine Beziehungsbereitschaft von diesen Wünschen bzw. Begierden reinige, vor allem vom Narzissmus. Immer wieder höre ich von meinen Klienten: „Was wird meine Mutter dazu sagen, was werden die Freunde sagen, wenn ich mich von meinem Partner trenne?“ Nur die Angst an einer Kritik hält sie in einer Beziehung. Es geht darum, die eigenen Gefühle sich selbst gegenüber einzugestehen, das ist die eigentliche Arbeit, und damit kann man anderen dann auch eine Bedienungsanleitung für sich selbst geben. Jeder Videorekorder hat eine Bedienungsanleitung, und wir können einander auch eine für uns geben. Aber die Arbeit, sie zu formulieren, muss jeder selber erledigen.

Sind die Ansprüche, die wir an eine Liebesbeziehung stellen, teilweise nicht auch viel zu hoch? Unendliche Energie, Aufgehoben- und Geborgensein und noch vieles mehr?

ROTRAUD A. PERNER: Geborgenheit ist schon einmal zu streichen, sie gehört zur Kind-Eltern-Beziehung. Als Erwachsener habe ich diese Bedürfnisse zwar auch, aber das sind regressive Wünsche, und kein passender Umgang im Erwachsenenleben. Anders gesagt: Wenn solche Augenblicke der Geborgenheit entstehen – wunderbar, aber das ist es nicht, worauf ein Erwachsener pochen sollte. Das ist nicht Liebe. Liebe ist, auch wenn ich mich nicht geborgen oder verstanden fühle, trotzdem zu lieben. Daran ist auch nichts Hehres. Hehr ist nur die Propaganda rundherum: Die Aufopferung von Frauen etwa, das ist alles Verpackung für Ausbeutung. Wahre, reine Liebe ist von diesen Verpackungen befreit und liebt, egal, was der andere tut oder nicht tut. Weil man die andere Person nicht braucht fürs eigene Selbstwertgefühl.

Die Chance, dass sich zwei Menschen auf gleicher Augenhöhe finden – wie groß ist die?

ROTRAUD A. PERNER: In Augenblicken gibt es das, aber nicht 24 Stunden pro Tag und 365 Tage im Jahr. Dafür haben wir zu viel anderes zu tun. Das schafft nicht einmal ein Eremit in der Gottesbeziehung. Ich denke aber, dass es wichtig ist, dass man in der vierten sexuellen Revolution, wie ich die Kommerzialisierung nenne, weiß, was alles nicht Liebe ist. Uns wird vorgegaukelt, möglichst viel Geschlechtsverkehr wäre der Gipfel der Erfüllung: Aber das ist nicht Liebe. Die Frage ist: Wo ist die Energie? Im Herzen oder im Unterleib? Wenn man die Liebe pflegen will, muss man sein Herz pflegen.

Hält die wahre Liebe alles aus?

ROTRAUD A. PERNER: Ja. Frauen müssen aber aufpassen, dass es nicht in Masochismus ausartet. Deshalb ist eigene Beziehungsarbeit so wichtig – um herauszufinden, was zur Liebe nicht dazugehört und was nur Überlebenstechniken sind, mit denen man die eigene Selbstachtung stützt. Sobald es um Demütigungen geht, muss man zu sich selber halten, das abstellen und dazu Formen entwickeln, wie man sich schützen und verteidigen kann. Freilich kann man auch in so einer Beziehung bleiben, das ist eine persönliche Entscheidung, nur Liebe ist es nicht.

Neben denen, die ewig in einer hoffnungslosen Beziehung stecken bleiben, fallen allerdings jene auf, die in Liebesfragen beim ersten rauen Lüfterl das Handtuch werfen. Ist das nicht eher ein Symptom unserer Zeit?

ROTRAUD A. PERNER: Sie beschreiben da verschiedene Möglichkeiten, wie Leute sich ihre Beziehungen arrangieren. Wenn man in die Tierwelt blickt, gibt es Geschöpfe wie die Gazellen, die bei Gefahr sofort davonhuschen. Es gibt aber auch Schildkröten, die mit eingezogenem Kopf abwarten, bis der Sturm vorbei ist. Das alles sind Seinsweisen, das darf alles sein. Ich kann ja nur durch das Unterscheiden überhaupt Dinge wahrnehmen. Ich weiß nicht, was wahre Liebe ist, wenn ich nicht die anderen Formen kenne, die nur ähnlich aussehen, aber nicht Liebe sind. Deshalb ist es so wichtig, dass man für sich selbst, nicht jeden Tag, aber doch gelegentlich, Selbsterforschung betreibt. Früher sind Leute beichten gegangen, heute gehen sie in Therapie; Tagebuchschreiben funktioniert aber auch. Man muss sich nur die Zeit nehmen und sich fragen: Was will ich denn? Was tue ich denn? Manche kommen früh dahinter, manche nie – aber meist ist es ein Gewinn der zweiten Lebenshälfte, dass man herausfindet, was man zum Beispiel alles tut, nur damit man nicht kritisiert wird. Man soll hackeln, sich fortbilden und ein perfektes Familienleben führen, und bei all dem bleibt nichts mehr für einen selbst übrig.

Da sind wir also wieder bei der Zeitfrage?

ROTRAUD A. PERNER: Vor allem Frauen haben noch immer viel zu wenig Zeit für sich selbst – ohne sich zum Beispiel für andere schön zu machen oder sich weiterzubilden, um für den Arbeitgeber attraktiv zu sein. Was Männer sich schon lange erlauben, das kommt bei jungen Mädchen erst langsam an: für das eigene Schöpferische zu leben. Da gilt noch immer „Das tut man nicht“. Es geht darum, sich selbst zu entdecken und zu sich ehrlich zu sein.

Mehr Mut wäre also gut?

ROTRAUD A. PERNER: Mein Buch will die Menschen darin bestärken, zu ihren Erfahrungen zu stehen und nicht zu verzweifeln, wenn dieses tiefe Ahnen von „Da fehlt noch was“ noch keinen Weg gefunden hat, der zu Beglückung führt. Denn Beglückung kann man auf mannigfache Weise erleben – auch auf einer Parkbank mit einer wildfremden Person, wenn man gemeinsam den Schwänen im Teich zusieht. Man ist auf einer Wellenlänge und weiß, der andere spürt das auch – dann das Herz aufmachen, weil man gerade gemeinsam etwas Größeres, Ganzes erlebt.