Unterbewusst werden Menschen nicht nur aufgrund ihrer verbalen Kommunikation, sondern auch aufgrund ihres Erscheinungsbildes bewertet. Warum ist der Mensch so visuell geprägt, wenn es um Stil und Bekleidung geht?
Daniel Kalt: Watzlawick hat einmal gesagt, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Bekleidungsformen sind ein Aspekt der Kommunikation auf einer nonverbalen Ebene, ganz unabhängig davon, ob man sich bewusst mit Mode auseinandersetzt oder nicht. In der überwiegenden Zahl der Fälle tritt man bekleidet vor Menschen und trifft damit immer eine implizite Aussage, egal ob für einen selbst oder andere. Mode ist eine Art, wie sich auch mitunter persönliche Botschaften in der Gesellschaft manifestieren. Damit macht man sich selbst auf gewisse Art zu einer Deutungsoberfläche. Und auch wenn wir im Alltag manchmal mehr oder minder "irgendetwas" anziehen, ist das dennoch ein Ergebnis einer früheren Kaufentscheidung, die wir mit einer bewussten oder unbewussten Intention getroffen haben.
Inwiefern beeinflusst unser Umfeld unsere Wahrnehmung von Kleidung in all ihren Facetten?
Kleidung ist neben Mimik und Gestik das erste, wodurch wir uns in sozialen Situationen deutbar machen. Ich bezeichne das gerne als die Sendeseite. Auf der anderen Seite begeben wir uns ein Leben lang in unterschiedliche Situationen, in denen wir Menschen in einem professionellen oder privaten Kontext begegnen, die sich auf eine gewisse Art und Weise kleiden. Von jeder dieser Interaktionen nehmen wir unweigerlich etwas mit. Sowohl das Treffen visueller Aussagen, als auch die Deutungen, die man trifft, sind das Ergebnis eines Lebens, das man damit verbringt, sich anzuziehen und angezogene Leute zu sehen. In einem gewissen Sinn formt Mode dadurch auch unsere Wertvorstellungen.
Kann der Einsatz bestimmter Kleidungsstile bei Politikerinnen und Politikern also fast als politisches Kalkül bewertet werden?
Ich glaube grundsätzlich nicht, dass alle Menschen, die sich für ein politisches Amt bewerben, von Haus aus die Entscheidung treffen, Menschen mit ihrer Bekleidung zu beeinflussen oder die Kompetenz besitzen, sich eine "Personaluniform" zu zimmern. Bei Personen mit besonderem politischen Talent wird die Kleidung allerdings natürlich schnell ein Teil der Kommunikation. Mode steht grundsätzlich für das Wechselhafte und stellt somit eigentlich einen Kontrast zu dem dar, was politisch agierende Personen kommunizieren wollen: permanente Werte und Zuverlässigkeit. So hat sich Angela Merkel unter anderem explizit gegen das "Aufgestylt sein" ausgesprochen.
Wie können Macht und Mode dann überhaupt korrelieren?
Auch wenn Mode mit seiner fluktuierenden Ader gefühlt im Widerspruch zu dem steht, was Politik darstellen will, kann sie dennoch genau diese Beständigkeit ebenso kommunizieren. Wenn Menschen wie Angela Merkel ein modisches Erscheinungsbild haben, das sich über die Jahre relativ wenig verändert und dennoch nicht komplett austauschbar ist, kreieren sie automatisch einen gewissen Wertekatalog - und vermitteln damit die bereits erwähnte Zuverlässigkeit. Am Ende hat das auch praktische Gründe und eine gewisse Effizienz. Wir sprechen von Menschen, die wenig Zeit haben, geschmackliche Entscheidungen zu treffen. Je mehr sie sich also an einem vorgefertigten Bild orientieren, desto schneller sind sie angezogen.
Im Kontext von Kleidung in Verbindung mit Politik sprechen Sie in Ihrem Buch immer wieder von modischen Codes, was lässt sich darunter verstehen?
Zum einen ist es das Grundverständnis dafür, dass Mode eine Art der Kommunikation ist. Jede Auswahl, die ich innerhalb dieser Grundmöglichkeiten treffe, ist also ein Code, den ich versende. Menschen, die im selben Kulturraum leben, haben mehr oder weniger die Fähigkeit diese Codes zu entschlüsseln, wenn sie nicht zu komplex angelegt sind. Vor allem in der visuellen Politikkommunikation ist eine Definition von Codes aber sehr heikel, da nicht pauschal gesagt werden kann: "Person XY zieht dies und jenes an und das sagt dieses und jenes über sie aus." Anders ist das, wenn Politikerinnen und Politiker die Entscheidung treffen, zum Beispiel wirklich immer Tracht zu Anlässen zu tragen. Dadurch wird natürlich schon vermittelt, dass die Person einem gewissen traditionsbewussten Wertekatalog nähersteht. Auch wenn mit einem Grundbild, wie es von politischen Personen existiert, gebrochen wird, trifft man eine gewisse Grundaussage.
Haben Sie konkrete Beispiele?
Gabriel Boric, der Staatspräsident von Chile, kommt aus einer widerständigen, jungen Politikerbewegung und tritt mit T-Shirts und Lederjacke auf. Genauso wie die finnische Staatspräsidentin Sanna Marin, die ebenfalls bei einer Pressekonferenz mit der ehemaligen schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson eine Lederjacke trug - das vermittelt den Code "Ich bin unkonventionell, ich zeige mich kämpferisch." Als Sebastian Kurz bei den ÖVP-Wandertagen anstatt im alpinen Karohemd-Look in urbaner Active Wear unterwegs war, stellte er sich auf andere Art und Weise dar wie unter anderem der ÖVP-Politiker der Vergangenheit.
Können Außenstehende erkennen, wie viel von dem, wie sich Politikerinnen und Politiker präsentieren, das Resultat von geschicktem Marketing ist und wie viel der tatsächlichen Person dahintersteckt?
Letzten Endes ist es egal, ob du einen Stilberater hast oder dir deine Kleidung selbst aussuchst. Man kann den Prozess mit der Arbeit von Redenschreibern vergleichen: Sie bereiten eine Rede vor, Politiker lesen sie durch, streichen und fügen Dinge hinzu - und am Ende stehen sie auch inhaltlich als Vortragende dafür gerade. Genauso ist es auch mit dem Gewand. Normalerweise wird ein Outfit auch nicht so stark polarisieren wie das gesprochene Wort, allerdings gibt es natürlich Kommunikationsereignisse, die in den sozialen Medien ganz bewusst gesetzt werden - aber auch schiefgehen können.
Die wären zum Beispiel?
In der Phase, als die ganze Welt auf die Ukraine schaute und Präsident Selenskyj auch in seinem Kleidungsstil vom normalen Staatsmann in den Krisenmodus überging, hat sich gleichzeitig Emmanuel Macron in Frankreich im Élysée-Palast in Paris in einem Hoodie vor die Kamera gesetzt. Der war ganz bewusst ausgewählt, weil er auf die französischen Streitkräfte verwies und Macron als sich um den Staat und das Wohlergehen der Welt sorgenden Politiker inszenieren sollte. In Anbetracht dessen, was Selenskyj parallel machte, wirkte die Darstellung eines schlaflosen Staatsmannes bizarr auf Beobachterinnen und Beobachter.
Welchen Unterschied macht das Geschlecht, wenn es um die Kombination von Mode und Macht geht?
Grundsätzlich ist das modische Repertoire von Frauen größer als das der Männer. Als Frauen im 20. Jahrhundert begannen, Hosenanzüge zu tragen, war das eine Revolution. Heute erkennen Frauen in der Politik immer mehr den Effekt von Mode als Teil der visuellen Kommunikation und setzen sie bewusst ein. Während Politikerinnen es früher eher vermieden haben, in einen Mode- und Lifestyle-Kontext gebracht zu werden, sieht die jüngere Generation das anders. Das ist einer der Gründe, warum man jetzt mehr Frauen in politischen Positionen auf dem Cover von Modezeitschriften sieht. Die Kommunikationsarten, die Männern zur Verfügung stehen, manifestieren sich dann eher in Details. Richtige Kleiderordnungen für Männer und Frauen gibt es in ganz wenigen Volksvertretungen, auch nicht in der österreichischen. Der einzige Anspruch ist, dass es schicklich ist. Im französischen Parlament wurde jetzt unter anderem eine Sakko-Pflicht für Männer eingeführt und auch Krawatte wird stark empfohlen. Frauen sind auf der anderen Seite mit der Herausforderung konfrontiert, dass ihr Auftreten viel schneller öffentlich analysiert wird.