"Aber Frau Brodesser, die paar Euro hat man doch immer zu Hause", erklärte ihr eine Lehrerin, als sie in der Schule anrufen musste, weil sie die vier Euro für den Werkunterricht schlicht nicht hatte und ihrem Kind nichts mitgeben konnte.
Niemals im Leben wird Daniela Brodesser die Belehrungen dieser Lehrerin vergessen, die null Ahnung davon hatte, wie es sich anfühlt, wenn die ganze Wohnung durchwühlt wird in der Hoffnung, in einer Lade oder Hosentasche doch noch ein paar Münzen zu finden. In Österreich wird es laut Prognosen bald 20 Prozent Arme geben, 17 Prozent sind es jetzt schon, 1,7 Millionen Menschen gelten aktuell als arm.
Ein Thema, das von der Politik gerne verdrängt und von den Betroffenen selbst verschwiegen wird. "Wer arm ist, der redet selten darüber. Aus Scham, Angst und Schuldgefühlen", sagt Daniela Brodesser. Das sei auch bei ihr nicht anders gewesen.
Lange habe auch sie sich gedacht: "Die Armen, das sind die anderen. Diejenigen, die faul vorm Fernseher sitzen und nicht arbeiten wollen. Armut trifft mich doch nicht, denn ich bin weder faul noch ungebildet, noch eine Schmarotzerin." Falsch gedacht.
Nach und nach krachte die Armut auch in ihr Leben. Mit voller Wucht. "Und plötzlich waren wir arm", sagt sie. "Bis dahin waren wir eine durchschnittliche Mittelklassefamilie, die zwar nicht reich war, aber ganz gut über die Runden kam", erzählt uns die 47-Jährige am Telefon. Sie lebten in einer hübschen Wohnung in einer Siedlung mit vielen Familien, hatten zwei Autos, fuhren in Urlaub, machten Ausflüge und feierten Kindergeburtstage: "Eine defekte Waschmaschine war zwar ärgerlich, aber kein Grund, sich nächtelang in den Schlaf zu weinen."
Ihr Mann, gelernter Tischler, hatte immer Vollzeit gearbeitet, zuletzt in einer Sicherheitsfirma. Nebenbei war er selbstständig tätig. Daniela Brodesser besserte mit geringfügigen Jobs das Haushaltseinkommen auf.
Dann wurde sie, die immer eine Großfamilie haben wollte, mit dem vierten Kind schwanger. Das war 2008: "Zum ersten Mal im Leben hörte ich von einer Zwerchfellhernie." Die Ärzte rieten bei dieser angeborenen Fehlbildung zu einem Schwangerschaftsabbruch, doch sie und ihr Mann wollten das Kind behalten. Mit allen Konsequenzen. Die Jüngste habe die ganze Krankheitspalette "rauf und runter" durchlebt. "Unsere Tochter hat jede Komplikation mitgenommen, die möglich war", sagt Brodesser. Heute sitzt das Mädchen in der zweiten Klasse im Gymnasium.
Im Herbst 2012 kam es bei Brodessers Mann zum Zusammenbruch. Burnout. Die Sicherheitsfirma konnte einen Mitarbeiter mit psychischen Problemen nicht brauchen, er wurde gekündigt. Er hatte zudem das Pech, an schlechte Ärzte zu geraten, die Burnout nur Managern zugestanden, ihn nicht länger Zeit krankschrieben, und er andere Jobs annahm, als freier Dienstnehmer. Und er arbeitete und arbeitete, bis seine Batterien endgültig den Geist aufgaben und gar nichts mehr ging.
Die Miete konnte nicht mehr bezahlt werden, die Betriebskosten waren nicht mehr zu schaffen, die Kinder erzählten in der Schule, dass sie bei außertourlichen Veranstaltungen nicht mitmachen wollten. Sie schummelten, um nicht zugeben zu müssen, dass kein Geld dafür da war.
"Armut macht krank. Armut macht unsichtbar. Armut macht sprachlos", erinnert sich Brodesser.
Sie musste sich endlich Luft machen und da fiel ihr Twitter ein. Zuerst schrieb sie unter dem Namen "Graue Maus". Sie entdeckte, wie viele andere ähnliche Probleme hatten, ähnliche Sorgen, ähnliche Herausforderungen stemmen mussten. Das machte ihr Mut, sie nannte sich fortan auf Twitter "Frau Sonnenschein" und hatte Abertausende Follower.
Laut österreichischem Regierungsprogramm 2020 sollte die Zahl der Armutsbetroffenen in Österreich bis zum Ende dieser Legislaturperiode halbiert werden. Bisher blieb es beim Wunsch.
Zwar wurden Sozialleistungen an die Inflation angepasst, nicht jedoch das Arbeitslosengeld. Um die Teuerungen im Jahr 2022 abzufedern, erhielten viele Haushalte Einmalzahlungen. "So wichtig diese Maßnahmen in Zeiten von Krisen sein mögen, sind sie doch weit entfernt von nachhaltiger Armutsbekämpfung", sagt Brodesser. Sie erzählt von einer Studie der britischen "New Economics Foundation", die erhoben habe, welcher Beruf am wichtigsten für die Gesellschaft sei und welcher am schädlichsten.
Am wichtigsten sei die Krankenhausreinigungskraft, denn ohne sie würden sich Viren und Bakterien verbreiten, zu Komplikationen und mehr Todesfällen führen. Der für die Gesellschaft schädlichste Job sei laut dieser Studie jener der Steuerberaterinnen und Steuerberater, denn die würden dafür sorgen, dass dem Staat weniger Einnahmen zukommen.
"Und wer verdient mehr?", fragt Brodesser. Einkommen habe nicht unbedingt mit "Leistung" zu tun.
Die Armut hat Brodesser hinter sich gelassen, heute setzt sie sich in mehreren Projekten für andere Arme ein. Mit ihrem Mann und dreien ihrer vier Kinder – die 25-Jährige ist ausgezogen – lebt sie 15 Kilometer von Linz entfernt bei Gallneukirchen. Heute fühle sie sich auch wie "Frau Sonnenschein", die viel Pech im Leben hatte, "aber auch Glück".