Da regt sich noch irgendjemand über nicht kindgerechte Gewaltexzesse in Videospielen und Streaming-Serien auf?
Ein Geschwisterpaar, das von einer alten Frau sklavenartig im Wald gehalten wird, und am Ende vom Mädchen in die Glut eines Ofens gestoßen wird, der eigentlich angeheizt war, um den Buben zu braten. Eine Königin, die ihre Stieftochter zu vergiften versucht und ermorden lassen will und dafür einen Jäger als Killer engagiert. Ein Mädchen und dessen bettlägerige Oma, die von einem Wolf gefressen und dann gerettet werden, indem dem Tier im Schlaf der Bauch aufgeschnitten wird.
Es sind keine aktuellen Horrorfilme, denen diese Plots entrissen sind, sondern über Jahrhunderte konservierte und weitererzählte Märchen. Hinterhältige Hexen, verwunschene Prinzen, böse Stiefmütter, gefährliche Tiere, fantastische Zauberer – und dazwischen meist unschuldige Kinder. Soll man das dem Nachwuchs tatsächlich noch zumuten? Werden da die richtigen pädagogischen Botschaften vermittelt? Sind die Rollenbilder noch zeitgemäß? Natürlich nicht. Aber das ist auch nicht der Anspruch, dem sich Märchen aussetzen.
Vielmehr sind es bildhafte Geschichten über menschliche Erfahrungen und Entscheidungen. Sie erzählen von so abgründigen Gefühlen wie Angst, Eifersucht, Zorn und Liebe. Sie vermitteln zeitlose Werte wie Gerechtigkeit und Selbstvertrauen, sie zeigen die Kraft von Freundschaft und Beharrlichkeit in schwierigen Lebenssituationen – und übersetzen all das in magische Symbole und mächtige Bilder. Das macht Märchen für Kinder ab drei Jahren so faszinierend und ihre Botschaft intuitiv verständlich.
Klaus Höfler