Mit spielerischer Leichtigkeit zieht sich Catherine Destivelle an ganz kleinen Leisten hoch, ihre Füße baumeln dabei Hunderte Meter über dem Abgrund. Ganz ohne Sicherung. Es wirkt fast spielerisch, wie die Französin in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren ihre „Free Solos“ absolvierte – die tödlichste Spielart des Kletterns.


Ich hatte keine Angst. Mein Level war viel höher als die Kletterschwierigkeit bei meinen Free Solos. Ich fühlte mich sehr sicher, ich konnte gar nicht fallen“, sagt die 1960 in Algerien geborene Französin und lacht. Im Kreise der Weltklasse des Alpinismus wurde ihr jetzt der Paul-Preuss-Preis verliehen. Sie ist damit die erste Frau, die diese nach dem in Altaussee geborenen Preuss benannte Auszeichnung verliehen bekam. Destivelle war voriges Jahr auch die erste Frau, die den „Piolet d’Or“ (Goldener Eispickel) für ihr Lebenswerk gewinnen konnte. In den Achtzigern und Neunzigern des 20. Jahrhunderts gehörte Destivelle mit der Amerikanerin Lynn Hill zur Weltklasse im Klettern: Neben waghalsigen Free Solos in Mali oder am „Devils Tower“ in den USA, war sie 1988 die erste Frau, die eine 8a+ im Rotpunkt-Stil kletterte.


Die Berge waren für Destivelle, die im französischen Wald von Fontainebleau mit dem Klettern begann, aber nie eine Flucht. „Vielleicht jagte ich einfach meinen Kindheitserinnerungen nach“, erzählt die 61-Jährige. „Jedes Mal, wenn ich klettern ging, erinnerte es mich daran, wie ich als Kind die Welt entdeckte. Es ist ein schönes Gefühl. Du vergisst das Leben, es ist wie eine Art Urlaub, keine Flucht.“ Sie ist froh, dass ihre Eltern sie haben gehen lassen – sie durfte als Mädchen ihre Welt entdecken, Abenteuer erleben.


Die Geschichte der Frauen im Alpinismus ist nach wie vor eine am Rande erzählte Geschichte, eine, die viel damit zu tun hat wie verschieden Mädchen und Buben groß werden dürfen. „Ich denke, es verändert sich gerade“, sagt Destivelle. Alpinismus wird als Geschichte des Leidens, der Ausdauer und Ängste erzählt: Und das ist immer noch großteils männlich konnotiert. Destivelles Leben erzählt genau so eine Geschichte des Leidens, der Ausdauer und Furcht. Am 10. März 1992 durchstieg sie im Winter solo die Nordwand des Eigers (3970 Meter), dieses „Monstrums“ im Berner Oberland. 1800 Meter kombinierte Wand aus Fels und Eis: Todesbiwak, Hinterstoißer-Quergang, Weiße Spinne – das sind die fürchterlichen Bilder heraufbeschwörender Stationen dieses Berges. 1990 schaffte sie die zweite freie Begehung der Slowenenroute am „Trango Tower“ (6251 Meter) in Pakistan: Damit wiederholte sie das Husarenstück von Kurt Albert, Wolfgang Güllich und Hartmut Münchenbach.
„Keine Frau vor ihr und keine nach ihr kann derartige Erfolge im alpinen Bergsteigen vorweisen“, beschreibt Reinhold Messner in seinem Buch „On Top. Frauen ganz oben“ die Leistungen der Französin: Ihre Solo-Durchsteigungen am Eiger, an den Grandes Jorasses oder an den Drus sind für Messner „heute Legende“. „Jeder spricht heute über diese Touren. Ich wollte damals nur mich selbst testen. Ich war bis dahin ein Rock Climber, aber Fels und Eis sind eine andere Geschichte.“ Am Anfang war sie sogar etwas besorgt: „Ich war so daran gewöhnt, mit meinen Händen zu klettern, doch dann musste ich die Eispickel verwenden.“
Destivelle steht damit in einer Linie von Kreativ-Alpinisten, die man bei Paul Preuss beginnen lassen kann, jenem 1913 am Gosaukamm verstorbenen Pionier der Freikletterei. Wanda Rutkiewicz, die große polnische Bergsteigerin, eroberte in den 1970er-Jahren die Achttausender, Oh Eun-sun gelang am 27. April 2010 als erster Frau die 14 vollzumachen, die 14 Achttausender (ein Berg umstritten). Die österreichische Höhenbergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner schaffte es 2011 – ohne Flaschensauerstoff.


Was aber Destivelle auch auszeichnete, ist, dass sie ihr Leben nicht dem Alpinismus unterordnete. Als sie 1997 ihren Sohn Victor zur Welt brachte, blieb sie Alpinistin, änderte aber dennoch ihren Lebensstil: „Ich bevorzugte es, bei meinem Sohn zu sein, ich fuhr die Expeditionen runter und wartete um vier Uhr am Nachmittag vor der Schule auf ihn.“ Es machte ihr nichts aus, dass sie weniger in die Berge kam. Sie und ihr Mann Érik Decamp brachten Victor gar nicht so oft dorthin. „Erst jetzt, mit 23, fragt er uns, ob wir mit ihm in die Berge gehen.“ Destivelle ist mittlerweile ins Verlagsgeschäft eingestiegen und bringt bei „La Editions du Mont Blanc“ Bücher heraus.

Destivelle an der Dru
Destivelle an der Dru © Kosciki/Privat
„Ich jagte meinen Kindheitserinnerungen nach“
„Ich jagte meinen Kindheitserinnerungen nach“ © RENÈ ROBERT

Paul-Preuss-Preis

"Die Wildnis, in der wir unsere Erfahrung gemacht haben, wird zurückgedrängt“, sagte Hausherr Reinhold Messner, als auf Schloss Sigmundskron der Paul-Preuss-Preis unter Obmann Joe Bachler an die Alpinistin Catherine Destivelle verliehen wurde. Der Preis sei eine Brücke, um die Preuss’sche Art des Alpinismus nicht untergehen zu lassen: eine pure Art des Bergsteigens „by fair means“. Messner war 2013 der erste Preisträger, es folgten – neben vielen anderen – Beat Kammerlander oder Alexander Huber, der die Laudatio hielt. Im Kreise der Weltklasse des Alpinismus (Peter Habeler, Dani Arnold, Thomas Huber etc.) nahm Destivelle den Preis entgegen.

Huber, Destivelle, Bachler und Messner
Huber, Destivelle, Bachler und Messner © Helmberger