Ihr Buch „Beute“, das am Montag auf Deutsch erscheint, behandelt die Frage, warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht. Warum halten Sie westliche Gesellschaften nicht für resilient genug?
AYAAN HIRSI ALI:Die westlichen Gesellschaften sind nicht belastbar genug, weil sie sich für ihre Werte entschuldigen. In den europäischen Ländern, die ich für dieses Buch bereist habe, traf ich viele Menschen - sogar Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden - und die mir sagten: Es tut mir so leid, ich will Einwanderer nicht loswerden, ich bin nicht rechtsextrem, ich will nur, dass deren schlechtes Verhalten aufhört. Das Problem ist, dass die Westler nicht so selbstbewusst in ihren Werten sind.
Sie heben das Thema sexuelle Gewalt durch muslimische Zuwanderer hervor. Warum wird dieser Aspekt nicht gesondert beachtet?
Viele westliche Gesellschaften, freilich nicht alle, haben das Thema Islam und Integration zum Tabu erklärt. Wo mehr Einwanderer aus muslimischen Ländern sind, gibt es Probleme mit der Integration. Das ist eine Tatsache. Wo es gut organisierte und etablierte islamische Gemeinden gibt, wie in Deutschland, Frankreich und einigen skandinavischen Ländern, ist die Frage der Assimilation eine Konfrontation der Werte. Die islamischen Führer sagen zu den Gemeinden: Integriert euch nicht! Nehmt nicht die Werte eures Gastlandes an, denn sie sind Ungläubige, sie sind Kuffar. Mit dieser Art von Mentalität und Konfrontation waren die westlichen Länder leider zu selbstgefällig und haben zu viel akzeptiert. Es ist fast ein Aufruhr. Denn diese Menschen leben als Gemeinschaft physisch im Land, aber sie bekennen sich zu einem völlig anderen Rahmen von Gesetzen, Werten, Normen und Ideen. Das gilt nicht für jeden einzelnen Muslim, aber eben besonders dort, wo die Islamführung gut organisiert ist.
Ist das Thema aus Ihrer Sicht die größte Bedrohung für die Frauenrechte?
Der Islam ist eine der größten Bedrohungen für die Frauenrechte in Europa. Denken Sie daran, dass in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit die Frauenrechte ohnehin beeinträchtigt sind. Und jetzt kommen diese so sozialisierten jungen Männer in die westlichen Gesellschaften. Besonders in den 2000ern sehen wir keinen Zustrom von Frauen und Familien sondern eine Menge junger Männer. Ich schaue mir nur die deutsche Statistik an: 60,5 Prozent der Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland um Asyl baten, sind Männer. Im Buch führe ich die Zahlen in aller Ausführlichkeit auf.
Und in Österreich?
Dort sind es zum Teil noch mehr, aber Österreich wurde überwiegend nur als Durchgangsland genutzt. Die meisten Einwanderer wollten nach Deutschland. Österreich ist trotzdem für mich sehr interessant. Denn es ist eines der Länder, auf die ich hoffnungsvoll blicke, wenn es darum geht, bei Einwanderern unsere Werte durchzusetzen. Aber damit das passieren konnte, gab es eine Menge Gewalt gegen Frauen. Manche Österreicherinnen haben es mir gegenüber als "Vergewaltigungsepidemie" beschrieben. Und das war noch vor Corona. Das war die Sprache, die tatsächlich verwendet wurde. Wenn solche Dinge passieren und es ein Opfer nach dem anderen gibt, dann wachen einige Länder auf und sagen: Okay, vielleicht müssen wir etwas gegen dieses Problem tun. Österreich und Dänemark sind auf einem guten Weg. In Schweden, Deutschland und Frankreich ist es schrecklich.
Sie plädieren dafür, dass diese Fragen auf "verantwortliche Weise" angesprochen werden. Geht das überhaupt, wenn man umgehend von Islamisten bedroht oder als rechtsextrem und rassistisch bezeichnet wird?
Es ist möglich. Denn Länder, die sich verändern, sind solche, die eine Krise des sozialen Zusammenhalts haben. Sie erleben ein Aufkommen von rechtsextremen Parteien wie in Frankreich. Sie hatten Terroranschläge und terroristische Aktivitäten. Wenn sich die Dinge verschlimmern, beginnen einige der führenden Politiker mit einer Politik zu reagieren, die oft zu wenig ist und zu spät kommt. Ich beobachte Frankreich intensiv. Der Schullehrer Samuel Partie wurde nach einer Reihe von Terroranschlägen und versuchten Terroranschlägen in Frankreich enthauptet. Und der Präsident sagte: Okay, ich werde ein Gesetz zur Bekämpfung des islamischen Separatismus verabschieden. Er bringt es durch das Abgeordnetenhaus, das Gesetz ist jetzt im Senat, aber es ist verwässert. Selbst wenn das Gesetz verabschiedet wird, ist es nicht stark genug. Aber immerhin besser als nichts.
Der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans hat in einer sechs Länder umfassenden Studie festgehalten, dass 65 Prozent der Muslime religiöse Regeln für wichtiger erachten als die Gesetze des europäischen Landes, in dem sie leben. Was sagt das über die schweigende Mehrheit der Muslime aus?
Seiner Arbeit in seinem Buch „Das verfallene Haus des Islam“ bin ich gefolgt. Ich bin so glücklich, dass er ein Empiriker ist. Er beschäftigt sich nur mit Zahlen sowie mit Indikatoren, die man messen kann. Denn das ist ein hochkomplexes Thema, dem mit Studien nur schwer beizukommen ist. Aber er hat sich der Aufgabe gestellt und statistische Vergleiche über nahezu alle westlichen Länder in der Welt aufgestellt. Seine Schlussfolgerungen sind entsetzlich. Nicht nur, dass 60 Prozent der jungen Leute diese Ansichten teilen, Koopmans fand sogar heraus, dass jedes westliche Land mit muslimischen Einwanderern Probleme mit deren Integration hat. Er erwähnt interessante Vergleiche zwischen Flüchtlingen aus dem Libanon, also mit exakt den gleichen Fluchtursachen in ihrem Herkunftsland. Einige sind Christen, einige sind Muslime, aber alle gingen nach Australien und hatten damit dieselben Startbedingungen. Die Christen aus dem Libanon haben sich gut integriert, die muslimischen Libanesen nicht. Pakistani und Bangladeschers im Vereinigten Königreich scheitern seit Jahrzehnten, die Hindu und Sikh sind hingegen völlig integriert – zum Teil sogar besser als die Urbevölkerung. Kopmanns folgert daraus: Die Probleme, die wir in muslimischen Ländern sehen, beobachten wir auch in den muslimischen Gemeinschaften in westlichen Ländern. Das betrifft insbesondere die Frage der Frauenrechte. Das hat Koopmans nicht im Detail getan und ich habe das ausgearbeitet.
Sie vergleichen die islamische Haltung in der Frauenfrage mit der christlich-westlichen Haltung. Ist das tatsächlich eine Frage der Religion oder nur eine Konfrontation der Kulturen?
Es ist meiner Ansicht nach beides. Religionen sind eine Quelle gesellschaftlicher Werte. Der Islam ist eine Quelle der Werten und der Normen sowie Gesetzen, wenn man an die Scharia denkt. Es ist nicht mehr möglich, so zu tun, als ob etwas, das sich Islam nennt, nichts mit Werten und Geseten zu tun hätte. Und dass es nur eine Religion ist. Und es noch etwas anderes gibt, was Kultur und Werte heißt. Das funktioniert inzwischen nicht mehr. Wenn Muslime in westliche Gesellschaften einwandern, bringen sie ihre islamischen Normen, Werte, ihre Kultur und ihre Haltung zu Frauen, Homosexuellen, Juden sowie Nichtmuslimen mit. Und etliche Muslime handeln nach diesen Einstellungen. Die Folgen davon sind der Kern meines Buches.
Viele junge Muslime sind bereits in Europa geboren und nennen Europa ihre Heimat. Wohin sollen wir sie genau schicken? Die Vorstellung, Menschen zurückzuschicken, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, ist bis zu einem gewissen Grad Selbstbetrug. Man kann jene, die jetzt kommen und eine Anpassung verweigern, zurückschicken. Man sollte das vor allem nur dann, wenn zuvor genug in einen gangbaren Weg zur Integration investiert wurde. Aber für diejenigen, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, ist die Assimilation der einzige Weg. Man muss Programme entwickeln und dann dafür sorgen, dass entsprechende Personen diesen Programmen folgen.
Die Einwanderung aus muslimischen Ländern führt offensichtlich stärker als frühere Fluchtbewegungen zu einem Konflikt der Kulturen in Europa. Wie sehr ist dies darauf zurückzuführen, dass europäische Staats- und Regierungschefs versagt haben?
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Als Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt wurden, sollten sich die Ostdeutschen in das neue System integrieren. Es gab zugegebenermaßen nicht so eine große kulturelle Kluft zwischen Menschen wie bei Afghanen in Australien oder Syrern in Österreich. Aber die Erwartung war trotzdem, dass aus den Ostdeutschen Westdeutsche werden sollten. Sie sollten westliche Werte annehmen und westliche Gesetze akzeptieren. Wenn sie dies nicht taten, wurden ihnen ein Gefühl von Fremdheit, Andersartigkeit und Zurückweisung vermittelt. Bei der muslimischen Einwanderung herrschte immer die Einstellung vor: Du kannst deine Kultur behalten. Diese Haltung der europäischen Länder war meiner Ansicht nach falsch. Es basierte auf der früheren Idee, dass Gastarbeiter irgendwann wieder heimkehren und damit keinerlei Notwendigkeit bestand, sich anzupassen. Als es dann schließlich keine Arbeit mehr für die Gastarbeiter gab, wurden ihnen trotzdem erlaubt, zu bleiben und ihre Familien nachzuholen. Diese Einstellung hält bis heute an. Sie wurden aber auch später nie aufgefordert, sich anzupassen. Die Debatte über Integration von muslimischen Minderheiten geschah in den westlichen Ländern vornehmlich ohne diese Minderheiten. In den Debatten überzogen sich die Teilnehmer dann mit Begriffen wie Rassist, Fremdenfeind, Islamfeind. Es ging aber nie um Programme, wie Migranten geholfen werden kann, die Werte des Gastlandes wirkungsvoll anzunehmen. Obendrauf kam die Erlaubnis der europäischen Staaten, eine islamische Infrastruktur aufzubauen, in der islamische Gelehrte den Mitgliedern der Gemeinschaft sagen können: Nimm nicht die Werte deines Gastlandes an!
Sie waren in den Niederlanden selbst in der Politik. Welche Begebenheiten waren frustrierend?
Am frustriertesten waren die Mitte-Links-Parteien mit ihren Wertvorstellungen. Die Haltung lautete damals: Ihr könnte in die Niederlande kommen, bekommt alle Vorzüge des Wohlfahrtstaates und müsst nicht in das System einzahlen. Wenn den Parteien Enttäuschung aus der Bevölkerung entgegenschlug, entgegneten sie: Ihr seid Rassisten. Nicht nur die fehlenden Einzahlungen hat den Wohlfahrtsstaat beschädigt, sondern auch die Kriminalität. Es ging um die Haltung der muslimischen Männer zu Frauen und um die Gewalt gegen sie. Die Führungen der Parteien links der Mitte, nicht allein in den Niederlanden, und mit Ausnahme von Dänemark, haben alle Bemühungen vereitelt, die Probleme anzugehen und zu lösen.
Was lehnt der Islam denn ab, dass wir stattdessen akzeptiert haben?
Der Islam lehnt Reziprozität ab. Ein radikaler Islamist würde Ihnen gerne islamische Werte aufzwingen. Und ich denke, das ist es, was die europäischen Länder akzeptiert haben. Sie haben akzeptiert, dass sich eine islamische Infrastruktur in europäischen Ländern etabliert, was muslimische Länder nicht tolerieren würden. Das ist kein Weg in zwei Richtung. Der Islam ist eine Einbahnstraße.
Die Gegenthese zur Einwanderungsbeschränkung lautet, dass diese mittellosen Menschen aus Afrika und Asien nicht mit ihren Füßen abstimmen müssten, wenn es durch den Westen keinen Kolonialismus gegeben hätte und damit nicht die ökonomischen Möglichkeiten dort zerstört worden wären, während der Westen sich in eine Position unverdienter Überlegenheit erhoben hat. Was erwidern Sie denen?
Tatsächlich habe ich aufgehört, mit Linksparteien darüber zu diskutieren. Aber früher habe ich denen darauf geantwortet: Ihr nehmt die Realität und stellt sie auf den Kopf. Zuerst sagen Sie, wenn Sie eine Person im linken Spektrum sind, dass Kolonialismus bedeutet, dass weiße westliche Menschen in diese Länder gehen und den Menschen dort ihre Werte aufzwingen. Jetzt hat das aufgehört und die Leute von dort kommen hierher. Und die Linken sehen immer noch, dass wir denen Werte aufzwingen wollen. Die Menschen, die aus Afghanistan und anderen Teilen Südasiens oder Afrikas oder des Nahen Ostens kommen, werden von niemandem gezwungen, nach Europa zu kommen. Sie kommen mit freiem Willen hierher. Und sie wollen kommen, weil sie wirtschaftliche Chancen und politische Stabilität suchen. Das sind die Schlüsselkomponenten des Mangels in ihren eigenen Ländern. Damit sie in den Aufnahmeländern in Europa erfolgreich sein können, müssen sie die politischen und kulturellen Werte übernehmen. Das ist die einzige Fahrkarte zum Erfolg. Es hat keinen Sinn, über den Kolonialismus zu reden, der irrelevant ist. Es macht keinen Sinn, darüber zu reden, was in der Geschichte der westlichen Zivilisation schiefgelaufen ist. So viele Dinge gingen schief, aber viele Dinge verliefen auch richtig. Wenn etwas von diesen Dingen richtig gut gelaufen ist, dann sind es wirtschaftliche Möglichkeiten und politische Stabilität.
Könnte dieser Streit nicht langfristig zu einem Ende des Asylsystems führen?
Wir sollten das jetzige System beenden, denn 99,9 Prozent der Menschen, die um Asyl ansuchen, passen nicht in die legalen Rahmenbedingungen des europäischen Asylsystems. Das Asylsystem wurde 1959 ursprünglich konzipiert für Menschen hinter dem Eisernen Vorhang. Individuen, die vom politischen System verfolgt wurden und ihren Weg in den freien Westen fanden. Werte waren damals kein Thema für die Ankommenden. Ihnen waren die westlichen Werte wichtig. Das war ja der Grund warum sie vor den sowjetischen Herrschern flohen. Das waren die Rahmenbedingungen für das Design dieses Systems. Es war nicht darauf ausgelegt, dass Millionen Menschen aus dem Mittleren Osten, aus Südasien und Afrika kamen. Diese Weltregionen sind aber nach wie vor politisch instabil und wirtschaftliche Sorgenkinder. Man kann also jetzt schon voraussehen, dass weitere Millionen Menschen den Versuch unternehmen werden, nach Europa zu gelangen. Das jetzige Asylsystem ist nicht die richtige Antwort darauf.
Sie selbst wenden ein, dass man deshalb natürlich nicht ganze Bevölkerungsgruppen verdächtigen könne. Wie lässt sich eine Pauschalisierung verhindern?
Natürlich geht das. Jeder der zu uns in den Westen kommt ist ein Individuum und so sollten wir auch jeden individuell betrachten. Das ist gerade eines der Markenzeichen in Europa, dass jeder als Einzelner betrachtet wird. Allerdings findet man verschiedene Kategorien von Immigranten. Es gibt die Gruppe der Anpasser, die Regeln annehmen, Gesetze achten, die Sprache lernen, sich nach Jobs umschauen und sie auch finden. Die zweite Gruppe sind junge Männer, die sich auf sexuelle Verfehlungen und Kleinkriminalität einlassen, im Gefängnis landen und immer wieder Probleme verursachen. Hinzukommen als dritte Gruppe die Fanatiker. Das sind Islamisten, die denken, sie könnten die Sharia-Gesetze in ihren neuen Gesellschaften umsetzen. Die vierte und letzte Kategorie, zumeist Frauen und Ältere, besteht aus Menschen, die vor allem auf die Vorzüge des Wohlfahrtstaates schauen. Sie genießen kostenlose Wohnungen, das Schul- und Gesundheitssystem, weil sie tatsächlich glauben, dass alles gratis ist. Sie machen auch die größte Gruppe aus, während muslimischen Anpasser zur kleinsten Gruppe gehören. Das zeigen die Zahlen und ist keine Generalisierung.
Ingo Hasewend