Herr Schweifer, als Zeitphilosoph sprechen Sie beim Thema Covid von neuen „ver_rückten“ Zeiterfahrungen – was meinen Sie damit?
FRANZ J. SCHWEIFER: Verrückt im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Diese schwierige Phase stellt alles auf den Kopf, sie reißt uns heraus. Im Sinne der Erfahrung, dass nicht wir machen, sondern etwas mit uns gemacht wird. Es verrückt uns, sozusagen. Positiv formuliert kann verrücken aber auch heißen, dass wir zu gewissen Dingen ein bisschen mehr Abstand und wesentliche Einsichten gewinnen könnten, als wenn wir direkt im Sog des Alltagsgetriebes verharren würden.

Unser Leben ist auf Taktung ausgelegt: Freizeit, Arbeitszeit, Essenszeit. Was passiert, wenn diese Taktung durcheinandergewirbelt wird? Stichwort Homeoffice, Kurzarbeit oder Ladenschließungen?
FRANZ J. SCHWEIFER: Damit werden gewohnte Zeitmuster und Gewohnheiten an sich auf den Kopf gestellt. Zwangsläufig suchen wir nach Ersatzstrukturen und setzen Ersatzhandlungen – die auch ins Irrationale gehen können, wie etwa die Hamsterei von WC-Papier. In diesem Durcheinanderwirbeln sehe ich auch eine Chance, auch wenn wir die Katastrophe, die da gerade passiert, gar nicht gutreden sollen, denn die wirtschaftliche Situation ist schwierig. Aber es könnte auch passieren, dass wir im positiven Sinne so etwas wie Verzichts- und Reduktionskompetenz lernen. Wir könnten lernen, darüber nachzudenken und zu erfahren, was kann ich alles reduzieren? Am Ende bleibt die Frage, die man nur persönlich klären kann: Was ist für mich, für uns wesentlich?

Tempus fugit, die Zeit flieht: Zu normalen Zeiten schreitet sie unaufhörlich voran, lässt uns kaum Zeit zum Atmen. Aktuell jedoch scheint die Zeit stillzustehen, wir sitzen in der Wartehalle. Was macht das mit uns und verändert sich unsere Einstellung zur Zeit?
FRANZ J. SCHWEIFER: Ich vergleiche das Leben gerne mit einer Zugreise. Wir wissen den Ausgangspunkt, wo unsere Fahrt beginnt, unsere Geburt, aber wir kennen die Endstation nicht. Die Reise dorthin verläuft objektiv gesehen in vollkommen gleicher Geschwindigkeit, nur wir als Insassen in einem bestimmten Abteil erleben diese Fahrt und diese Geschwindigkeiten völlig anders. Und das hat mit den persönlichen Einstellungen zur Zeit zu tun. Heißt: Erlebe ich mich während dieser Zugfahrt, auch während dieser viralen Zugfahrt, als jemand, der da zwangsläufig drinnen sitzen muss, oder als jemand, der sich jetzt wesentliche Fragen stellt und sich selbst ein Stück weit betrachtet? Kurzfristig wird sich die Einstellung zur Zeit aus der Not heraus massiv ändern. Weil wir dann viel eher lernen zu erfahren, was wesentlich ist. Langfristig, und das lehrt leider auch die Geschichte, wird der Mensch eher sehr schnell in die sogenannte Normalität zurückfallen.

Heißt also: Der Mensch kann gar nicht anders, als am Rad der Zeit zu drehen?
FRANZ J. SCHWEIFER: Die Zeit als solche ist unberührt von uns Menschen, sie selbst ist weder beschleunigt noch entschleunigt. Wir sind die Beschleuniger und da gibt es ein schönes afrikanisches Sprichwort: „Als Gott die Zeit erschaffen hat, hat er von Eile nichts gesagt.“ Aber wir haben diesem alten Sprichwort zum Trotz die Eiligkeit zur Heiligkeit erhoben und tragen sie ein Stück weit wie eine Monstranz vor uns her. Allerdings rächt sich die Zeit, indem sie uns vermehrt davonzulaufen scheint. Es nützt alle Eiligkeit nichts, im Gegenteil, es macht uns nur bewusst, wie knapp die Zeit ist.

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Zeitforscher Franz J. Schweifer
Zeitforscher Franz J. Schweifer © Schweifer & Partner

In immer neuen Varianten die Zeit überlisten zu wollen, das scheint eines der Dogmen dieser Gegenwart zu sein.
FRANZ J. SCHWEIFER: Das Blöde an der Eile ist, dass wir umso mehr Gefahr laufen, am wirklich Wesentlichen vorbeizulaufen und es zu übersehen. Sale, Sale, Sale, to go, to go, to go, alles, was bewegbar ist, wird bewegt. Selbst das Essen hat schon Räder. Das kommt ja nicht von ungefähr. In einem Supermarkt stand lange an der Kassa zu lesen: einfach, schnell, kontaktlos. Das ist ein Widerspruch: Vordergründig ist nichts dagegen einzuwenden, es ist bequem, da nehme ich mich nicht aus. Wir bezahlen ganz schnell und sind ganz schnell wieder draußen. Dabei sind wir uns nicht im Klaren, was wir uns damit einheimsen, nämlich das Antreiben dieses Beschleunigungstaktes. Manchmal sollten wir hier auch Widerstand leisten.

Was uns zur hohen Kunst des Müßiggangs und des Verweilens bringt? Wie kann es gelingen?
FRANZ J. SCHWEIFER: Man muss sich bewusst sein, dass der Müßiggang ein Lernprozess ist. Denn wenn man zu hoch konditioniert ist und Geschwindigkeit internalisiert hat, kann es von einem Tag auf den anderen fast nicht funktionieren. Im Gegenteil, da kollabieren viele. Man kennt das: Du fährst auf Urlaub und plötzlich wirst du krank. Da sage ich gerne: Krankheit ist die sozial legitimierte Form von Ruhe: Du darfst nicht nur Ruhe geben, du musst auch. Den Müßiggang muss man immer wieder in kleinen Dosen probieren: Einfach nur gehen und sonst gar nichts, sich wo hinsetzen und die Umgebung betrachten oder ein Buch lesen. Und ich sollte mich fragen: Was tut das mit mir? Im besten Falle bin ich ganz bei mir. Das wäre dann Achtsamkeit. Die ist so etwas wie Hautkontakt mit der Gegenwart.

Ein eher ungewöhnlicher Advent steht vor der Tür, was können wir uns für diese Zeit vornehmen?
FRANZ J. SCHWEIFER: Advent heißt ja Ankunft und gerade in dieser Zeit können wir uns fragen: Wo bin ich angekommen? Oder in die Zukunft gedacht: Wo möchte ich ankommen? Dieses „advenire“, das Ankommen, kann sehr sinnstiftend sein und Wichtiges mit uns machen. Indem wir uns nicht nur fragen, warum ist die Krise passiert, sondern vor allem, wozu? Das Stellen dieser Wozu-Frage kann gerade in einer Krise, einer Zeit der Wende, gesellschaftlich wie individuell viel Positives für uns bewirken.