Jedes Jahr beginne ich in alter Tradition, die mir aus fernen Schultagen lieb und lustig geblieben ist, mit der Anrufung des Dudens, in dem man mit geschlossenen Augen blättert und blind auf drei Begriffe aus allen nur möglichen deutet, um sich dann zum Vergnügen die Zukunft aus ihnen zusammenzureimen. Die Vorhersage mit dem Wörterbuch ist sozusagen das Kaffeesatzlesen des Schriftstellers. Es gibt stets viel Gelächter und, ist der Duden allzu genau mit unangenehmen Lebensfragen, betretene Gesichter im Freundeskreis, denn auch ein Spiel kann einen ertappen: Anstehende Hochzeiten haben sich als problematische Themenkomplexe erwiesen. Es ist keine Überraschung, dass die Begriffe, die das Wörterbuch in der letzten Silvesternacht zu 2020 ausgespuckt hat, durchwachsen bis zweifellos miserabel waren, denn rückblickend ist beinahe nichts je eine Überraschung.

Dass die Zukunft weder vorherseh- noch vorhersagbar ist, und man, selbst wenn sie bereits eingetreten und Gegenwart geworden ist, nicht immer gut an sie glauben kann, ist eine andere Sache. Tatsächlich war das Jahr für alle ein Jahr der Veränderungen, Brüche und Umbrüche, eine Zeit der Prüfungen und Neuigkeiten, um die man nicht gebeten hat. Es scheint mir, als hätte heuer jeder eine besonders traurige Geschichte zur Hand. Die große Welt hat’s einem schon nicht leicht gemacht, aber auch in den Abermillionen kleinen Welten hat es gebrodelt, Verheerungen und Beschädigungen gegeben.

Kaum einer, den ich kenne, hat es unbeschwert, gewaltige Schicksalsschläge, die man für unwahrscheinlich gehalten hat, häufen sich, wilde Geschichten, die man für unmöglich gehalten hat, widerfahren dem einen und dem anderen. Krankheiten und Traurigkeiten blühen auf. Alles scheint aufs Äußerste verdichtet, die Intensität der Welt hochgedreht, der Atem angehalten. Wenn es läuft, dann läuft es, hört man an jeder Ecke. Auch die, die es gewohnt sind, aus schlechten Situationen das Beste zu machen, sind müde und haben Sehnsucht danach, dass es für einen Augenblick bloß gut ist, ohne Relation.

Ich neige in solchen Zeiten nicht zum Jammern, aber zum brachialen Fluchen. So sehr ich Wert lege auf Manieren, so sehr empfinde ich es als unerlässlich und sehr gehörig, manchmal mit Schimpfwörtern um sich zu werfen, dass einem die Zunge dreckig wird davon. Denn der Welt angemessen zu begegnen ist wiederum eine eigene Frage der Höflichkeit. Und eine Befreiung, die einen energetisch weitermachen lässt, fröhlich gegen alle Widerstände. Man schont einander schließlich nicht. In der vorletzten Woche am Tag der US-Wahl erkundigte sich ein guter Freund nach dem Befinden und schrieb: Wie geht’s euch abseits von Terror, Corona, dem Krebs in der Familie, dem Wetter und Trump? Da fiel mir beim besten Willen kein Fluch ein, ich konnte nur laut und herzhaft lachen und antworten: Abseits davon: alles gut. It made my day.