Brooklyn, Oktober 2020. Ein Workshop-Teilnehmer erzählt freimütig: „Vor Corona kannte ich keinen meiner Nachbarn persönlich.“ Er macht eine Pause und sagt dann: „Heute kenne ich sie alle.“ Frau Kimbell und Charly von Apartment 4D seien ihm besonders ans Herz gewachsen. „Wochenlang haben wir der 72-Jährigen und ihrem Hund während des strikten Lockdowns Essen vorbeigebracht.“ Alles sei organisiert worden innerhalb weniger Tage über die hauseigene Nachbarschaftshilfe, die „Lisa aus 2B“ ins Leben gerufen habe. Die Grundversorgung einiger besonders gefährdeter Hausbewohner war gesichert. Als Dank hinterließ Frau Kimbell jeden Tag eine handgeschriebene Postkarte mit einer persönlichen Nachricht. „Ich habe sie alle aufbehalten“, sagt der Bekannte. Es sind Erzählungen wie diese, die – hört man in dieser sonst so geschäftigen Stadt genau hin – Signale liefern für ein verändertes, ein lokales New York. Ein New York für die New Yorker.
So erzählte auch ein langjähriger Bewohner Chinatowns: „Trotz allem ist gerade jetzt ein verloren gegangener neuer Zusammenhalt spürbar.“ Das einst lebhafte Viertel in der Weltmetropole, dessen Restaurants und umtriebigen Abendmärkte es durch ihren einzigartigen Geruch, schon viele Blocks bevor man die Grenze von Soho querte, ankündigten, erwacht zum Leben. Im Columbus-Park wird wieder Schach gespielt – mit Maske, versteht sich, die nur zum Rauchen abgenommen wird. Neben den Schutzmaßnahmen kämpfen Bevölkerung und Unternehmer hier mit rassistischen Anfeindungen im Zuge der Coronakrise. Trumps Wort vom „China-Virus“ verfängt.
Aktuell verbringe ich viel Zeit mit Gesprächen in Chinatown. Im Auftrag der Stadt erarbeitet mein Team mit den Bewohnern ein neues ganzheitliches Konzept für den Wiederaufbau eines im Jänner abgebrannten Gebäudes und das umliegende Gebiet. Der Esprit, den das Projekt auslöst, ist ansteckend. Die Hoffnung, dass es zum Symbol einer modernen asiatisch-amerikanischen Identität wird und die lokale Wirtschaft belebt, ist groß. Auch wenn sich so manch einer sorgt, dass die für den Wiederaufbau zugesagten 80 Millionen Dollar den aktuellen Budgetkürzungen zum Opfer fallen.
In den sieben Jahren, in denen ich nun in New York wohne, ist kaum ein Monat vergangen, in dem sich kein Besuch von Familie, Freunden und Kollegen aus aller Welt angekündigt hat. Ob ein schneller Kaffee mit einer früheren Kollegin, Dinner und Drinks mit Freunden aus der Studienzeit, ein Theaterbesuch mit Bekannten oder längere Aufenthalte der Familie: New York ist einladend und bringt einen die Welt direkt vor die Haustür – ohne sie verlassen zu müssen. Für mich war das immer ein Merkmal einer wirklichen Weltstadt. Und ich habe dies stets genossen, nicht nur, weil ich über die Jahre viele neue wie alte Bekanntschaften aufleben lassen konnte, sondern auch, weil mir viele dieser Besuche immer wieder ein kleines, temporäres Stück Heimat mitgebracht haben.
Im März war abrupt Schluss damit. Die Stadt, die niemals schläft, hat dicht gemacht. Ein Spaziergang in Midtown glich einst einem Hürdenlauf. Dieser Tage lässt es sich gemütlich schlendern, auch wenn viele der zu den Attraktionen zählenden pompösen Schaufensterauslagen noch immer wegen der „Black Lives Matter“-Proteste verbarrikadiert sind. Am Times Square sieht es nicht anders aus. Umliegende Büros, die das Mittagsgeschäft einst belebten, sind weitgehend verlassen. Die Türen der Broadway-Theater sind geschlossen, die grellen Neonlichter erloschen. Mit den anhaltend strikten Einreisebeschränkungen tummeln sich nur wenige Touristen auf dem Platz, der wie wenig andere Orte zum Symbol des Kapitalismus geworden ist. Im August kamen weniger als 400.000 internationale Touristen am JFK-Airport an. Ein Einbruch von 89 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Auch nach Monaten ist die Coronakrise eine offene Wunde, die noch lange wird heilen müssen. Zu tief sitzen Schock und Schmerz der Auswüchse der ersten Pandemiewochen. Knapp 24.000 Menschen haben hier ihr Leben bisher verloren. Der Großteil der Toten entstammt den ärmeren Schichten. Auch sie sind es, die von den enormen wirtschaftlichen Konsequenzen am stärksten betroffen sind. Aktuell liegt die Arbeitslosenrate bei rund 16 Prozent. Ein Großteil davon betrifft Arbeiter im Gast- und Servicegewerbe. Es sind beschämende und gleichermaßen schockierende Fakten, auf die Corona ein Scheinwerferlicht richtet und die sich in steigender Kriminalität widerspiegeln.
So mannigfaltig wie die Stadt selbst sind auch ihre Gesichter zu Zeiten Coronas. Manch einer wie James Altucher hat die Stadt buchstäblich totgeschrieben. „New York wird dieses Mal nicht zurückkommen“, schreibt der Unternehmer. Wie etwa nach 9/11 oder der Finanzkrise 2008 möchte man anfügen. „Dieses Mal ist es anders. Ein Grund dafür ist die Verfügbarkeit von Breitband-Internet. Die Menschen sind von New York in eine virtuelle Welt gezogen. Sie haben jetzt Wahlmöglichkeiten, können in Nashville leben und genauso produktiv sein, das gleiche Gehalt beziehen und eine höhere Lebensqualität bei geringeren Kosten haben“, schreibt Altucher. Aus, vorüber und vorbei also? In der Tat haben Hunderttausende der Stadt den Rücken gekehrt, manche womöglich für immer. Andere wie Jerry Seinfeld deklarieren der Stadt in der „New York Times“ lautstark ihre Liebe. Der TV-Star sieht gerade jetzt den Moment der Neuerfindung gekommen.
Die Geschwindigkeit der Stadt ist eine andere als vor der Krise. Doch spaziert man durch ihre Gassen, wird man das Gefühl nicht los, dass sie nur Luft holt. Vielleicht geht es dem Big Apple so wie vielen von uns, denen die Krise den Blick auf das Wesentliche geschärft hat. Ich erinnere mich daran, zu Beginn neben Sorge auch ein Gefühl der Erleichterung empfunden zu haben. Eine Erleichterung, nicht mehr „zu müssen“, mich sozialen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen für eine Zeit entziehen zu können, um mich nach innen zu wenden und Kraft in der Stille zu finden. Denn sind die Aussichten noch so düster, so sind auch immer Silberstreifen am Horizont erkennbar.
Aktuell sind das die vielen Gastgärten, die Brooklyns Straßen säumen und das neue Stadtbild prägen. Es ist das Streichtrio ums Eck, das seit Monaten einmal wöchentlich kostenlos ein Konzert auf einem Stiegenaufgang spielt. Es ist die gemeinsame Mediation im Herbert-Von-King-Park, deren beruhigende Klangkulisse jeden Samstagmorgen in der umliegenden Nachbarschaft zu hören ist. Es sind die Hunderten Straßenkilometer, die in den Monaten zuvor zu Begegnungszonen umgewandelt wurden und damit nicht nur Wohnzimmer erweitern, sondern auch grundsätzliche Debatten zur Nutzung öffentlichen Raums in Bewegung gesetzt haben. Es sind die Dutzenden Hilfsgruppen, die in den Krisenmonaten ins Leben gerufen wurden und Nachbarschaftshilfe ganz neu definiert haben. Eine Tatsache scheint sich auch während dieser globalen Pandemie wieder zu bewahrheiten: Es sind die Menschen, nicht das Drumherum, die ihm, meinem New York, den Wert geben und die Stadt zu ebenjener einzigartigen machen, die sie ist.
Isabella Gady