Wir wussten nicht, ob wir im Himmel oder auf Erden waren“, schwärmten Gesandte von Großfürst Wladimir, nachdem sie die Hagia Sophia in Konstantinopel betreten hatten. 537 errichtet, sollte sie für viele Jahrhunderte die größte Kirche der Christenheit sein – und Prototyp der Basilika im byzantinischen Stil. Gleich nach dem Eingang findet sich der äußere und der innere Narthex, Hallen, die dem eigentlichen Kirchenraum vorgelagert sind. Vor allem in der Anfangszeit hielten sich hier die Katechumenen, also die Taufwerber, auf. Das Wort leitet sich vom griechischen „katéchein“, unterrichten, ab. Oder anders gesagt: Der Narthex war jener Ort, an dem Nicht-Christen mit den Glaubensgrundsätzen und wichtigsten biblischen Erzählungen vertraut gemacht wurden. Das Baptisterium selbst findet sich in unmittelbarer Nähe. Da es in den ersten Jahrhunderten noch viele Erwachsenentaufen gab, war vielen Gotteshäusern eine große Taufkapelle angeschlossen. Erst mit der Christianisierung großer Teile Europas ging ihre Anzahl deutlich zurück.


Die (bereits getauften) Gläubigen gelangten dann über eines von fünf Toren in den naós, den „Tempel“, den eigentlichen Kirchenraum. Das Mosaik über dem Haupttor zeigt Christus als Pantokrator, als Allweltenherrscher. Wie in der orthodoxen Ikonografie üblich, verweist eine in Griechisch abgefasste Inschrift daneben auf den Dargestellten: IC – XC – die Abkürzung für Jesus Christus. Was Latein jahrhundertelang für Rom und damit die Westkirche war, stellte Griechisch für die Ostkirche dar. Zu den zentralen Darstellungen der orthodoxen Bildersprache gehörte wiederum die Pantokrator-Darstellung. Während in der Westkirche das Kreuz für (Tod und) Auferstehung Jesu steht, ist es in der ostkirchlichen Tradition der Pantokrator. Einige Zeit schmückte diese Darstellung auch die 56 Meter hohe Kuppel, die den Kirchenraum überwölbt. Die Pendentifs, also die Eckzwickel darunter, sind wiederum bis heute mit Seraphen verziert. Dabei handelt es sich um sechsflügelige Engel, die dem Alten Testament nach den Thron Gottes bewachen.

Die Hagia Sophia in Istanbul
Die Hagia Sophia in Istanbul © (c) AFP (OZAN KOSE)
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Ebenso als Fortführung des Alten Testaments ist der Name des Gotteshauses zu sehen: Lautet doch die Übersetzung von Hagia Sophia „Heilige Weisheit“. Dem Alten Testament zufolge ist jener Mensch weise, der die Regeln, nach denen das Leben in allen seinen Beziehungen abläuft, kennt und beachtet, und dessen Leben daher gelingt. Im Neuen Testament ist diese Weisheit eine Gabe des Heiligen Geistes, die den Menschen über das normale Maß an Einsicht hinaus erleuchtet und zur Erkenntnis führt. „Gefäß der Weisheit Gottes“ ist einer von vielen Ehrentiteln, die Maria zugedacht sind. Sie ist – mit dem Jesuskind auf ihrem Schoß – in der Apsis der Hagia Sophia zu sehen. Doch Maria findet sich damit nicht nur an einer zentralen Stelle des Sakralbaus. Die ganze Stadt war einst der Gottesmutter geweiht. In Prozessionen, angeführt vom Patriarchen, wurde sie um Fürsprache und vor allem um Schutz vor den Feinden angerufen.

Einblick in die Hagia Sophia
Einblick in die Hagia Sophia © (c) AFP (OZAN KOSE)

Aus Konstantinopel – bis 330 nach Christus Byzantion genannt – stammt auch eine der bekanntesten ostkirchlichen Lobpreisungen, der Hymnos Akáthistos an die allerheiligste Gottesgebärerin und immerwährende Jungfrau Maria. Er wurde unter anderem am 15. August angestimmt, am Tag, an dem die Ostkirche der Entschlafung Mariens gedenkt.

Davon erzählt wird in apokryphen Schriften, also Erzählungen, die nicht zum Neuen Testament zählen, die aber sehr wohl eine große Rolle in der Volksfrömmigkeit spielten und spielen. Darin wird auch von Kindheit und Jugend Johannes’ erzählt, der in der Westkirche „der Täufer“ genannt wird. In der Ostkirche trägt er auch den Beinamen „Pródromos“, Vorläufer, Wegbereiter Jesu. Diese Zuschreibung findet sich auch auf jenem Deesis-Mosaik der Hagia Sophia  Es zeigt den segnenden Jesus, umgeben von Maria und eben Johannes, die für die Gläubigen Fürbitte einlegen. Davon lässt sich auch der Begriff „Deesis“ herleiten, der übersetzt Gebet, Bitte, Flehen heißt. Die Darstellung an der Südempore gilt als eine der schönsten.

Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 wurden viele christliche Sakralbauten in der Stadt zerstört oder beschädigt. Die Hagia Sophia blieb allerdings – trotz ihrer Umwandlung in eine Moschee – bis heute das wohl bedeutendste Zeugnis byzantinischer Baukunst und orthodoxen Glaubens für gut 900 Jahre.