Der Himmel ist leer. Keine Wolke. Nur dunkles, sattes Ende-Mai-Blau.
Glückliche Tage sind das, an denen man endlos draußen sitzen kann im Würgegriff des aufkeimenden Sommers. Ein wenig Sonne reicht, und schon zerren die vom Virus wirtschaftlich ohnehin ausgehungerten Wirte Klappsesserln, Holzbänke, Plastiktische und Campingschirme aus ihren Kellerverliesen ans Tageslicht und verstellen damit lichte Dorfplätze, lauschige Innenhöfe oder lästige Parkplätze.

Mitten in die fahlen Beton- und Asphaltwüsten des Urbanen implantierten sie blühende Oasen aus Blumenkisterln, Staudenhecken und Zwergbäumen. Davor die Straße. Dahinter der Gehsteig. Darüber eine halb automatische Dachkonstruktion aus auf modische Markisen hingeföhnten Sattelschlepperplanen. Dazwischen Tische und Stühle, Bänke, Beleuchtungsinventar und neuerdings künstliche Barrikaden aller Art, die den mindesten Abstand maximal garantieren sollen. Die verordnete Distanzierung vom Nachbargelage gilt vom Pöbel bis zum Präsidenten, vom Grind-Tschecherl bis zum Nobelitaliener, vom Tiroler Bergdorf bis zur Wiener Innenstadt. Das Elitäre dieses Bewirtungsformats liegt in seiner gnadenlosen Gleichmacherei.

„Außengastronomie“ oder „Freischankfläche“ nennt sich dieses Kleinod der Open-Air-Gastronomie im Beamtendeutsch, „Gastgarten“ im Branchensprech, „Schanigarten“ im Gebrauchsösterreichisch. Wobei Letzteres die spannendste Geschichtsdeutung serviert: Die einen behaupten, „Schani“ leite sich vom Vornamen von Johann Tarone ab, einem „Branntweiner“ am Wiener Graben, dem im Mai 1754 vor seinem Lokal die Installation eines Zelts zum Ausschank der „Erfrischungswasser“ genehmigt wurde. Der Urvater des Wiener Schanigartens also, von dem es heute allein in der Bundeshauptstadt rund 3500 Nachkommen gibt.

Der Gastgarten, ein Ort der Gemütlichkeit
Der Gastgarten, ein Ort der Gemütlichkeit © (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)



Die anderen verweisen auf die „Oeconomische Encyclopädie“ aus den Jahren 1783/1792 und das Aufkommen französischer Spracheinflüsse. Darin sind „Johann!“, „Hans!“ und „petit-Jean!“ (kleiner Johann) als Rufnamen für Bedienstete, Hausknechte etc. verzeichnet, „wenn man seinen rechten Taufnahmen nicht weiß“. Johann – auf Französisch Jean, auf Wienerisch „Schani“ – ist somit eine standesübliche Berufsbezeichnung für einen Dienstboten oder eben Kellner.
Wie auch immer und eigentlich egal. Jedenfalls und jederzeit transponieren Gast-, Bier- und Schanigärten Gassen, Straßen und Plätze in einen Ozean der Gemütlichkeit, Gehsteige und Parkplätze mutieren zu Strandbars der Balkonien-Urlauber, denen im heurigen Sommer die Meerufer dieser Welt verwehrt bleiben.

Der Schanigarten als alternativer Sehnsuchtsort. Als Asylheime für Alltagsflüchtlinge. Als Scharniergelenk zwischen dem öffentlichen Raum und dem im Verhältnis dazu Halbprivaten eines Lokals. Hier feiert die Schrebergartenmentalität fröhliche Urständ‘. Es redet sich halt leichter unter freiem Himmel. „Hast schon g’hört …?“, „Jetzt muss ich Dir was erzählen ...!“, „Darfst mich aber nicht verraten …!“, „Weißt, wen ich gestern …!“ Blablabla.

Gnadenlos wird unter dem Schleier des Alltags nach Dingen gestierlt, die niemanden etwas angehen. Gerüchte wuchern wie Unkraut, flüchtige Bekanntschaften wachsen zu handfesten Affären, scheinbar Nebensächliches schlüpft in Hauptrollen. Überall vibrieren Handys, plätschern Konversationsbäche, werden Mittagspausen bis an den Rand der Arbeitsverweigerung gedehnt, Wochenenden ausgewalzt. Es menschelt im Superlativ.

Und abends, wenn der nachmittägliche Kaffeehaus-Charakter langsam in eine Bar-Atmosphäre überschwappt, kann es passieren, dass der Alkohol aus den Gästen plötzlich Objekte polizeilich verfolgter nächtlicher Ruhestörung macht. Unabhängig von Rang und Namen. Der ausgelassenen Stimmung tut das selten weh. Es sind scheue Momente zwischenmenschlichen Glücks, die die Zeit nach einem letzten Getränk und einer allerletzten Zigarette unbemerkt beschleunigen. Was, schon so spät? Jetzt haben wir uns schön verplaudert ...

Aber die nächtliche Vertreibung aus dem Paradies ist nur ein Vorspiel für den Exodos in der gastronomischen Tragödie. Denn wenn die Tage wieder kürzer werden, sich kühles Herbstgrau in den fettblauen Sommerhimmel mischt, dauert es nicht mehr lange und die Gäste verkriechen sich wieder in die Gedärme der Gebäude. Und mit ihnen die Gartensessel, Klapptische und Kübelpflanzen. Und vielleicht auch die Aufregung.