Das Virus war neu. Und es raffte viele dahin. Der Ursprung aber war völlig unklar. So klang die Geschichte zunächst plausibel. „Aids. Man Made in USA“, titelte 1987 die linke Berliner „tageszeitung“. Zwei renommierte Zeugen bot das Blatt für die These auf, dass der Erreger der Immunkrankheit aus einem Labor der US-Armee stamme: Schriftsteller Stefan Heym interviewte den Biologen Jakob Segal von der Ostberliner Humboldt-Universität. Prominenz schützt nur vor Unfug nicht. Die Geschichte war im Kalten Krieg von östlichen Geheimdiensten lanciert. Das Ziel: das Vertrauen in die Vereinigten Staaten zu untergraben. Stefan Heym ist längst tot und auch Jakob Segal als wissenschaftlicher Vertreter der Anklage ist verstorben – nur die These, dass Aids vom US-Militär geschaffen worden sei, hält sich noch immer. Verschwörungstheorien haben eine lange Halbwertszeit – und eine lange Geschichte.
Ein Blick zurück: Minderheiten als Sündenböcke: Schon immer haben die Menschen Unerklärliches gern auf andere zurückgeführt. Oft suchten sie für Pest, Hunger und andere Unbill nach scheinbar Verantwortlichen. Dabei gerieten Minderheiten in den Fokus, etwa Juden. 1287 wurde am Rhein nahe Mainz ein totes Kind angespült. Bald geriet die jüdische Gemeinde in Verdacht. Das Stereotyp vom Ritualmord von Kindern zum Pessachfest war geboren. Er diente als Vorwand für furchtbare Pogrome. Heinrich Heine widmete dem Geschehen später die Erzählung „Der Rabbi von Bacharach“.
Doch literarische Überhöhung nützt wenig. Der jüdischen Minderheit wurden im Mittelalter tote Kinder und Brunnenvergiftungen zu Pestzeiten angedichtet. Antisemitische Stereotype überdauern bis heute: „Antisemitismus hat immer etwas mit der Vergangenheit zu tun und bezieht sich immer wieder auch auf aktuelle Diskurse. Bedient werden klassische Stereotype wie ,jüdische Weltverschwörung‘ oder ,Weltfinanzjudentum‘“, so Meron Mendel vom Anne-Frank-Zentrum in Frankfurt. Diskriminierung zielte auch gegen andere Minderheiten. So polemisiert Viktor Orbán mit antisemitischen Stereotypen nicht nur gegen George Soros. Auch gegen Sinti und Roma zieht der ungarische Ministerpräsident zu Feld. Die Minderheit tauchte um 1400 erstmals in Mitteleuropa auf, zunächst als exotisch betrachtet und mit Sendschreiben von Papst und Kaiser versehen auch respektiert. Das sollte sich ändern. Die Liste der Anschuldigungen ist lang, sie reicht von angeblicher Kindesentführung bis zur Spionage für fremde Mächte.
Der Hexenhammer
Frauen gerieten als Hexen ins Visier der Verschwörungstheoretiker. Irrglaube lautete der Vorwurf. „Hexenhammer“ heißt das Buch des Dominikaners Heinrich Kramer, das im Jahr 1486 die theologischen Verfehlungen auflistete und bis ins 17. Jahrhundert in Umlauf war.
Historiker zeigten später, dass die Hochphase der Hexenverfolgungen in die Zeit zwischen 1400 und 1700 fällt, eine Ära auch als kleine Eiszeit bekannt mit Missernten gepaart mit religiöser Verunsicherung. Abweichung von der reinen Lehre war stets gefährlich – auch in anderen orthodoxen Bewegungen. Wo nach Konformität gestrebt wird, wird es für Minderheiten gefährlich.
Sehnsucht nach Erlösung: Gerät die Welt aus den Fugen, wächst das Gefühl für Endzeit und Apokalypse. Der Prediger Joachim von Fiore sah im Mittelalter die Rückkehr des Heiligen Geistes für das Jahr 1260 kommen. Kein Zufall, dass der Anbruch des himmlischen Reiches auf Erden mit dem Untergang der weltlichen Ordnung zusammenfiel. Im Jahr 1250 war Friedrich II. gestorben, der letzte Kaiser aus dem Haus der Staufer. Eine herrschaftslose Zeit brach an – und Sehnsucht nach Erlösung.
Die lässt sich auch in irdischen Heilsbringern finden. Friedrichs Großvater Barbarossa ertrank 1190 auf einem Kreuzzug. Die Heimat mochte den fernen Tod des Kaisers nicht glauben. So hielt sich die Sage, Barbarossa warte in den Tiefen des Kyffhäuser und werde wiederkommen, wenn die Zeit reif sei. Das 19. Jahrhundert wollte Kaiser Wilhelm I. mit dem Kyffhäuser-Denkmal einreihen in die Liste großer Herrscher. Heute lädt die AfD dort zu Treffen. Die Neue Rechte sucht Erlösung in alten Zeiten. Wunder münden in Erfolgsgeschichten. Verschwörungstheorien enden im Untergang. US-Präsident John F. Kennedy oder Papst Johannes Paul I.? Gemeuchelt. Wahlweise von der CIA oder dunklen Kräften im Vatikan. Wie sollte sich das Scheitern von Hoffnungsträgern auch anders erklären? Wen wundert’s, dass das eigene hinlängliche Ich in solch einer dunklen Welt nicht vorankommt? Die Flucht aus der eigenen Verantwortung macht Verschwörungen so attraktiv. Und zugleich den Optimismus des Liberalismus für Anhänger solcher Thesen ebenso verdächtig wie linke Verheißungen.
Chemtrails vernebeln die Sinne
Der Einzelne erlebt in der Neuzeit einen ungekannten Kontrollverlust. Unsicherheiten und Verschwörungstheorien gedeihen in Umbruchphasen mit bröckelnder Ordnung. So ist es nicht überraschend, dass in Zeiten der strauchelnden Ordnungsmacht USA die wirren Mutmaßungen blühen. Die Mondlandung 1969? Perfide in der Wüste inszeniert. Die Analogie zu Platons Höhlengleichnis ist auffallend: Man muss nur genau hinschauen. Chemtrails am Himmel vernebeln die Sinne, Bill Gates greift über Impfaktionen und injizierte Nanochips nach der Weltmacht.
Verschwörungen ist einiges gemeinsam: Anti-Establishment, Anti-Amerikanismus, gern gepaart mit Antisemitismus und Anti-Kapitalismus. Überschneidungen zur Rechten sind daher nicht zufällig.
Bilanz: „Rätsel und Komplotte“ heißt ein Buch des Soziologen Luc Boltanski. Er untersucht die Störungen der Ordnung. Verschwörungstheorien beruhen auf dem „starken Gefühl“, dass „hinter dem äußeren Anschein, dessen unmittelbarer Sinn sich verflüchtigt hat, etwas versteckt liegt“, so Boltanski. Das Rätsel zielt auf rationale Lösung, das Komplott auf Paranoia. Das macht Verschwörungen so attraktiv. Nicht jede krude These lässt sich so leicht widerlegen wie ein auf Lügenmärchen beruhendes Aids-Interview.