"Das Christkind und der Osterhase sehen das ganze Jahr, ob du brav bist“ – irgendwie habe ich dies stets mehr als Drohung wahrgenommen, und nicht etwa als eine verheißungsvolle Aussicht. So lautet zumindest eine Erinnerung, als das Weltbild noch darauf ausgerichtet war. Die andere muss 34 Jahre zurückliegen, wenn die These stimmt, dass Kinder ab vier Jahren ins Langzeitgedächtnis speichern. Vielleicht waren es aber konstante Wiederholungen, wodurch sich Erinnerungen verstärkt haben. Sozusagen ein heimlicher Akt der Sicherheit (dass übrigens der Osterhase auch vorbeihoppelt, wenn zuvor die blütenweiße Weste nicht nur Grasflecken, sondern sogar verbrannte Löcher aufweist).

Sagen wir also, ich war vier. Onkel Ernsti hat mir aus Moos mein allererstes Osternest gebaut. Hinter eurem Haus, im Urtlgraben bei Guttaring. Ich spionierte oft um die Ecke, mit dir an der Hand – es war ja doch unheimlich. Manchmal lag hier tatsächlich ein Ei. An jenem Tag, als Opa so seltsam selbstzufrieden lächelnd aus dem Korb ein „geweihtes Bier“ zog, stand neben dem Osternest eine rote „Scheibtruchn“. Du, liebe Oma, bist mit Mama und Papa bei der Bank vor dem Fenster gesessen und hast dir das Spektakel nicht entgehen lassen. Ich weiß, wie sehr du es stets genossen hast, dem lauten Wahnsinn der Kuchl zu entfliehen. Wo die Onkels über Wein, Politik, über die Schärfe des Krens oder über die perfekte Osterjause sinnierten. Du hattest ein Ass: Die Duller-Spezial-Torte ließ alle verstummen.

In den letzten Jahren hockten wir unweit vom Osternest zusammen auf dieser Bank, haben geplaudert. Über den Silberbach, Gott und die Welt. Und wir haben deine Urenkelin Lia, unsere Tochter, beobachtet. Heuer können wir leider nicht kommen, ich wollte dir eh schon einen Brief schreiben. Zwar nicht über die rote „Scheibtruchn“, sondern um frohe Ostern zu wünschen.

Dein Martin