Dieser Brief an dich beginnt mit einer Unwahrheit. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, großer Bruder. Wobei es keine bewusste Flunkerei ist, sondern eine gedankliche Unschärfe: In meinem Kopf spielt sich unser innigstes Beisammensein vor zwei Jahren in einer wirtlichen Osternacht auf der elterlichen Terrasse ab. Der Ort stimmt, der Zeitpunkt womöglich nicht.

Dabei sind die Details vor meinem geistigen Auge so fein gezeichnet. Wirtlich ist die Erinnerung deshalb, weil da auf dem Tisch eine halb volle Rotweinflasche neben einer halb leeren Packung „Soletti“ steht. Und innig darum, weil Sätze voller Lebenserfahrung und Zukunftsängste ausgetauscht werden, während im Hintergrund Death Cab For Cutie aus der Box strömt. „And it came to me then that every plan is a tiny prayer to father time“, sang Ben Gibbard damals.

Ich glaube, David, in dieser Nacht habe ich dich wirklich kennengelernt. 28 Jahre hat es gedauert. Ich gebe weniger dem 13-jährigen Altersunterschied und mehr unserem manchmal zu laschen Kommunikationsverhalten Schuld daran. Und der Entfernung. Du lebst in Wien, ich in Hartberg. Lass uns bald wieder telefonieren, Bruderherz!

2019 blieb uns ein österliches Treffen verwehrt. Wegen der Coronakrise sehen wir uns auch heuer nicht. Du wirst stattdessen mit deiner Frau Ines und deinem Sohn Paul in der Hauptstadt den Osterhasen suchen. Wahnsinnig gerne wäre ich mit meinem vierjährigen Neffen und unserem Hund Lio in Papas Beeten herumgestelzt, um Nestchen zu finden. Wahnsinnig gerne hätte ich mit dir Zeit verbracht.

Hast du Mamas Video gesehen?

Klar, wir werden mit „Facetime“ die räumliche Distanz überwinden. Das ist vor allem Mama wichtig, aber das wirst du eh mitbekommen haben. Hast du ihr selbst gedrehtes Video angeschaut? (Unter uns: Sprich ihr ein Kompliment dafür aus, dann gibt’s mehr davon.) Und weißt du was? Ich ruf dich heute an. Dann können wir uns bei einem Glaserl Rotwein, „Soletti“ und einem „Death Cab For Cutie“-Song wieder ein Stückchen besser kennenlernen.

Bussi, Kirin