Ein Ratt-Tatt-Tatt zum Beginn, dem am Ende ein Pitt-Patt folgen wird. Kann man so ein Phänomen in Worte fassen? Vielleicht schon. Also: abwarten. Aber immer der Reihe nach. Es gab im Theater geraume Zeit ein Erweckungsritual, beherrscht von großen Bühnenmagiern auf faszinierende Weise. Sie tippten im dunklen Bühnenraum den starr stehenden, scheinbar leblosen Figuren sanft auf die Schulter. Ein Zeichen zum Erwachen, zur Verwandlung in Menschengestalten, mit oft unfassbarer Intensität.
Als die Britin Hilary Mantel im Jahr 2009 mit dem Roman „Wölfe“ ihre Tudor-Trilogie begann, war es ein gewagter Schritt in das große, reale Welttheater. Aber schon damals stellte sie ihre geniale Gabe unter Beweis, historischen Gestalten enorme Vitalität zu verleihen und all ihre historischen Figuren und Gedankenkinder ins Leben zu holen.
Sie tat dies im Wissen, risikoreiches historisches Terrain zu betreten, das von Dichtern, Dramatikern und Historikern öfter und emsiger beackert worden war als jede andere Epoche Englands. Auch Herr Shakespeare zählte bekanntlich dazu.
Es sind die Jahre der Regentschaft von Heinrich VIII., Tyrann, Ekel, Reformer in Personalunion. Ein Koloss, berühmt-berüchtigt für seinen skrupellosen Frauenverschleiß. Aber nicht den Tudor-König rückt Hilary Mantel in den Mittelpunkt. Ihr Augenmerk gilt Thomas Cromwell, dem engsten Vertrauten und „Laufburschen“ des Monarchen, dem Aufsteiger, der sich zum brillanten Vordenker, Strategen und Wegbereiter sozialer und politischer Neuerungen wandelt. Keineswegs frei von Blut auf den Händen.
Kurz zurück zum Erweckungsritual, das im Genre der historischen Romane derzeit niemand so exzellent beherrscht wie Hilary Mantel. „Und jetzt steh auf!“ Dieser Satz ist am Beginn ihres Dreiteilers zu finden, er kehrt ganz am Schluss wieder. Einerseits einer Klammer gleich, anderseits ein Beleg für das Credo der Autorin, dass es in derlei Romanen weder einen Beginn noch ein wirkliches Finale gibt. „Es sind alles Anfänge. Hier ist einer“, heißt es im zweiten, 2012 erschienen Band „Falken“.
Der, der da anfangs so leibhaftig aufsteht, nach zahllosen brutalen Misshandlungen durch seinen versoffenen Vater, und die Flucht ergreift, ist Thomas Cromwell, der einen steilen Karriereweg vor sich hat, vom Sohn eines Schmieds bis hin zum Machthaber und König ohne Krone.
Beide Werke erhielten den Booker Prize, Hilary Mantel wurde geadelt, die Bücher erreichten rasch Millionenauflagen, mittelmäßige Verfilmungen folgten. Aber Dame Mantel spannte ihre Kultusgemeinde auf die Folter. Acht Jahre lang. Als die Nachricht über die baldige Veröffentlichung des dritten Teils, „Spiegel und Licht“, die Runde machte, löste dies einen Hype aus, durchaus vergleichbar mit der „Pottermania“. Selbst der Handelsriese Amazon ging angesichts der Masse an Vorbestellungen einige Zeit mit einem „derzeit nicht lieferbar“ in die Knie, in Englands Buchhandlungen wurde im Takt von sieben Sekunden ein Buch verkauft. Innerhalb von drei Tagen waren es mehr als 100.000 Exemplare.
Nach der Hinrichtung kommt das Frühstück
„Sobald der Kopf der Königin abgetrennt ist, geht er davon.“ So lapidar beginnt der 1100-Seiten-Roman „Spiegel und Licht“, der die Trilogie vollendet. Der Kopf gehört Anne Boleyn, der zweiten Frau von Heinrich VIII., der letzten Widersacherin von Thomas Cromwell. Er wohnt der Hinrichtung kurz bei und freut sich sehr auf sein Frühstück. Exakt diese Lakonie ist es auch, die zu den besonderen Qualitäten der Autorin zählt. Diese trügerische Beiläufigkeit ist eingebettet in ein kontrastreiches, völlig kitschfreies, farbenprächtiges, sprachlich grandios ausgefeiltes Zeit- und Sittenbildnis. Es umfasst zwar nur einen zeitlichen Rahmen von knapp 20 Jahren, doch dieser Rahmen ist elastisch genug, um durch all die Archetypen locker bis in die Gegenwart zu reichen.
Stets schildert Hilary Mantel die Ereignisse aus der Sicht von Thomas Cromwell. Sie spielt, trotz ihrer enormen Kenntnisse, nicht die allwissende Erzählerin und sie schreibt in der Gegenwartsform – zwei weitere literarische Raffinessen, die ihrer Leserschaft unverzüglich das Gefühl vermitteln, selbst mitten im Geschehen zu stehen.
Am Ende, dies sollte nun wahrlich kein Spoiler sein, landet Cromwell auf dem Schafott, verleumdet als Hochverräter. Auf dem Weg zur Hinrichtung hört er, nebst einem „Und jetzt steh auf!“, den Trommelwirbel: ratt-tatt-tatt. Sein Herz poltert: pitt-patt, ratt-tatt. Vielleicht ist es auch das Geräusch, das der Lauf der Geschichte verursacht. Wer weiß das schon. Auf jeden Fall ist es das Hintergrundrauschen eines epochalen geschichtlichen Wunderwerks.
Werner Krause