Ja, die letzten Tage haben es gezeigt. Eine Bevölkerung muss sich nicht in jeder Hinsicht einig sein, um als Einheit auftreten zu können. Das „Team Österreich“ übt sich derzeit in Zusammenhalt. In den verlassenen Straßen des Landes hat sich in Zeiten der Coronakrise ein Resonanzraum aufgetan. Österreich-Flaggen zieren das Fensterbrett, Nachbarschaftshilfe greift um sich. Schon beinahe in Beatles-Manier werden Konzerte vom Balkon aus abgehalten. Anders als bei der Kultband, werden es nicht die letzten Konzerte bis zum Ende der Coronakrise gewesen sein. In diesem Zusammenhang hält auch das Singen von Hymnen weltweit wieder Einzug.
Der US-Sänger Lionel Richie plant plötzlich eine Neuversion des frömmlerischen Verklärungs-Hits „We Are the World“. In Österreich dröhnt Reinhard Fendrichs „I am from Austria“ sogar aus den Polizeiautos des Landes. Im Zeitalter der voranschreitenden Individualisierung ist dieser Hymne anscheinend die Rolle des Druckverbands für die Nation zugefallen, der Wunden aller Art abdichtet. „Das ist nichts Neues. In Zeiten von Unsicherheiten tritt das Phänomen der Hymne oft zutage“, erklärt Michael Huber, Professor am Institut für Musiksoziologie in Wien. „Es geht darum, zu signalisieren, wer wir sind und wer die anderen sind. Der Teamgeist soll beschworen werden. Ähnlich wie bei Länderspielen“, so Huber.
„Ich vermute, dass die Exekutive Fendrichs Lied ganz bewusst einsetzt. Aber das ist ja nicht weiter unanständig“, findet Franz Prassl, Professor für Kirchenmusik an der Kunstuni Graz. „Hymnen sind eine übertriebene Projektion in das bessere Ich. Sie zeigen, wie gut wir sein könnten. Natürlich macht diese aufgeschaukelte Emotionalität manchmal unkritisch“, so Prassl.
Ursprünglich als Loblied für Götter und Helden in der Antike vorgetragen, als liturgischer „Bittgesang“ im Mittelalter und nationaler Volksklebstoff im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeführt, gibt es heutzutage Hymnen für fast jeden Zeitgeist – manche von ihnen sogar doppelt. Für gegensätzliche Gesinnungslager. Sympathisanten der englischen Queen stimmen Henry Careys „God Save the Queen“ an, Gegner der monarchischen Ordnung greifen wohl lieber zur Punk-Version der Sex Pistols. „Das Singen von Hymnen und Musikstücken wurde auch von politischen Lagern verwendet“, erinnert Prassl. Auch die Verwendung des Fendrich-Klassikers stieß nicht ausschließlich auf Wohlwollen.
Im Netz wurden „utopisch-orwellsche Methoden“ der Exekutive beklagt.
„Der Text einer Hymne ist aber bei Weitem nicht so wichtig wie die Melodie und der Identifikationsfaktor“, weiß Franz Prassl. Die Beispielliste dafür ist lang. Die deutsche Nationalhymne lobt im Text drei Flüsse, die nicht mehr durch die Bundesrepublik fließen, das Partisanenlied „Bella Ciao“ avancierte durch die Netflix-Serie „Haus des Geldes“ im vergangenen Jahr zum Disco-Hit. Hinsichtlich des Textes von „I Am from Austria“ hat Michael Huber keine Bedenken von wegen nationalem Übermut. „Der Song ist ähnlich wie Bruce Springsteens „Born in the USA“ alles andere als eine unkritische Liebesbekundung. Fendrich würde sich wahrscheinlich wünschen, dass mehr Menschen auf den Text hören würden.“