Können wir verstehen, was es heißt, die Eiger-Nordwand über ihre schwierigste Route zu besteigen? Wohl nicht. Und wenn wir zustimmend mit dem Kopf nicken, wenn jemand wochenlang alleine durch Grönlands Fjorde paddelt, um am Ende auf einen einsamen Berg zu klettern, wissen wir nicht, was das bedeutet. Aber auch, wenn uns die Welt der Kreativ-Alpinisten letzten Endes verschlossen bleibt, können ihre Geschichten ein Stück weit lehrreich sein.
Der deutsche Weltklasse-Alpinist Robert Jasper sieht zwischen seinem Tun und der Kunst Parallelen: „Ich sehe mir manchmal Gemälde an und denke mir, das ist ja total abgefahren. Was will der denn damit sagen? Aber wenn du dich ein bisschen damit beschäftigst, entdeckst du Parallelen.“ Diese Parallelen will er mit seinen Erzählungen über die Extreme seines Lebens mit den Menschen teilen: „Ich denke, ich kann die Leute an einem gewissen Punkt abholen. Ab einem gewissen Punkt wird es auch abstrakt. Man kann jedoch Kreativität entwickeln, wenn man sich abstrakte Dinge anderer Menschen anhört.“ So lauschen wir den Erzählungen Robert Jaspers, um mit ihm auf die Reise nach Grönland zu gehen – sein jüngstes Abenteuer.
Alleine unter Eisbären
Vom letzten bewohnten Inuit-Ort Kungmit verließ er allein die Zivilisation und paddelte im eiskalten Fjord-Wasser. Jeden Abend baute Jasper sein Zelt und den Eisbär-Zaun auf und schlief mit seinem Gewehr in Griffweite. Eisbären sind in Grönland keine abstrakte Gefahr, sondern eine reale. „Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, versuche ich auch, es zu schaffen“, sagt Jasper, der ein positiver Mensch mit einer gehörigen Portion Lebensfreude ist: „Du wirst die großen Ziele nur erreichen, wenn es dir Spaß macht.“ Solo-Expeditionen wie jene in Grönland sind für ihn etwas ganz Besonderes: „Sie sind wie Juwele. Sie sind einmalig.“
Zwölf lange und entbehrungsreiche Tage war Jasper unterwegs, bis er sein Ziel, den „Fox Jaw Cirque“ erreichte, eine Bergkette mitten im Nirgendwo. Unterhalb der Wand des „Molar Spire“ richtete der Alpinist seinen Zeltplatz ein. Jasper hatte sich die erste Solobesteigung dieses Granit-Zackens vorgenommen, dessen Wand 450 Meter im hohen Schwierigkeitsgrad über seiner Umgebung aufragt. Jasper, der als einer der weltbesten Mixed-Kletter gilt, kämpfte sich drei Tage lang hoch: Ganz alleine, ohne jedwede Hilfe oder Zuspruch, gesichert nur mittels Selbstsicherungsgerät.
Als Jasper den Gipfel erreichte, kam es ihm vor wie im Himmel. Man stelle sich das einmal vor: Ganz alleine auf dem Gipfel des „Molar Spire“, 100 Kilometer weit entfernt vom nächsten bewohnten Ort Kungmit, zu stehen. Und Kungmit ist nicht New York, sondern nur ein winziges Dorf in einer extremen grönländischen Umgebung. 30 Tage war Jasper alleine unterwegs, 100 Kilometer hat er zu Fuß und 100 Kilometer auf See zugebracht. Aber Jasper ist diese Extreme gewohnt: „Ich bin wie ein Zehnkämpfer und habe im Alpinismus verschiedene Ziele. Die Eiger-Nordwand hat es mir schon angetan, dort bin ich 17 verschiedene Routen geklettert.“ Für ihn ist diese Nordwand nach wie vor ein Ort, wo man neue Abenteuer entdecken kann. Als normaler Bergverbraucher kann man sich die Eiger-Nordwand kaum über ihre Normalroute vorstellen, über die von Jasper gekletterten Versionen wird es dann, ja, richtig abstrakt.
Aber das muss auch gar nicht sein, denn Robert Jasper klettert diese schweren Routen nicht nur für sich allein, er klettert sie auch für uns. Für die Zuhausegebliebenen, die sich nicht in Todesgefahr begeben wollen, aber sich dem Tod, der ja bis zuletzt die größte Abstraktion bleibt, vom Wohnzimmer aus nähern wollen. „Auch Menschen, die nicht bergsteigen, finden viele Parallelen. Und du versuchst zu verstehen. Das, was wundervoll ist. Wenn jeder Mensch gleich wäre, wäre das schrecklich.“ Dann könnten wir auch nicht voneinander lernen.