Alles Getier im Haulewald duckte sich in seine Höhlen, Nester und Schlupflöcher. Es war Mitternacht, und in den Wipfeln der uralten riesigen Bäume brauste der Sturmwind. Die turmdicken Stämme knarrten und ächzten. Plötzlich huschte*
. . . ein kräftiger Mann durch die steil in den Himmel ragende Wand. Suchte mit seinen Händen nach den kleinen Griffen in dem sich 400 Meter aufbäumenden Rätikon-Fels. Und fand am 7. September 1991 einen Weg durch die 7. Kirchlispitze in dieser Vorarlberger Wildnis.
Beat Kammerlander schaffte damals ein Meisterwerk, dessen Kunst darin bestand, weltweit die erste alpine Kletterroute im oberen 10. Schwierigkeitsgrad zu sein. Seine Rotpunkt-Begehung jener Route, die er „Unendliche Geschichte“ taufte, war mit einem Schlag zu einer der weltweit schwierigsten Alpin-Routen geworden.
Es war seine „Unendliche Geschichte“ auf die er wie ein Besessener hingearbeitet hatte: „Das war so etwas von ermüdend. Es war ein persönliches Wachsen, ich konnte damals auch nicht schwerer sportklettern als 10+. Aber am Ende ist es doch geglückt“, sagt Kammerlander als wir gemeinsam den Fußweg zum Latzfonser Kreuz in den Sarntaler Alpen in Südtirol marschieren. Sein kräftiger, bulliger Körper wippt den Berg hinauf. Die wallende blond-weiße Mähne trägt Kammerlander zu einem Zopf gebunden. Er spricht langsam und bedächtig, sagt nie ein Wort zu viel. So etwas macht der Vorarlberger nämlich auch: Wenn er nicht gerade eine schwierige Route projektiert, erzählt er gerne einmal Interessierten, wie es sich anfühlt, so unsagbar schwer zu klettern.
Ein Preis für einen Großen
Der Vorarlberger Bergsteiger weilte in Südtirol, um während des „International Mountain Summit“ den Paul-Preuss-Preis entgegenzunehmen. Für sein Klettern, das in extrem schwierige und nur spärlich bis gar nicht abgesicherte Routen führt. „Was im Grunde genommen nur von einem Dutzend Menschen bewertet werden kann. Nämlich von jenen, die deine Routen wiederholt haben“, sagte der Südtiroler Bergführer und Spitzen-Alpinist Hanspeter Eisendle in seiner Laudatio über Kammerlander später am Abend im Forum Brixen.
Im Falle der „Unendlichen Geschichte“ dauerte es 15 Jahre bis ein Italiener namens Pietro dal Prá die Route wiederholen konnte.
Am Fels fand Kammerlander seine eigene Sprache: Kein Haken zuviel verunstaltet das Gestein, das ist er sich schuldig. Das Maurerhandwerk, das war dem heute 59-jährigen bald klar, wollte er nicht sein Leben lang ausüben. Parallel machte er damals seine Bergführerausbildung und sah andere Möglichkeiten in seinem Leben. Kammerlander wird ab den 1980er-Jahren zu einem der stärksten Sportkletterer der Welt. Routen mit klingenden Namen wie „Silbergeier“ oder die nach seinem Vorbild Wolfgang Güllich benannte „WoGü“ schreiben Geschichte (Güllich starb 1992 im Alter von 31 Jahren nach einem Autounfall).
Abseits der Felsen
Was den bald 60-jährigen Alpinisten in den letzten Jahren stark prägte, fand abseits der abweisenden Felsen statt: Es war die Geburt seiner Kinder. „Das ist wahrscheinlich einer der größten Einschnitte in meinem Leben. Ich habe noch nie so viel Liebe zu jemanden empfunden wie zu meinen Kindern.“ Sarah (2) und Samuel (4) durften in Brixen auch auf die Bühne, als der Papa seinen Preis verliehen bekam. „Das Klettern muss ich jetzt zeitlich reduzieren.“ Aber dennoch hat es dafür gereicht, dass er eine neue „Kampfzone“ erschlossen hat.
Im Rätikon, seinen Hausbergen in Vorarlberg. Eine sehr ausgesetzte Route im Hochgebirge. Wenn er sich noch einmal in den Fels hinein denkt, Seillänge für Seillänge erklärt. Noch einmal seinen Körper an den Fels presst, mit seinen Reibungsschuhen nach den wenigen Millimeter kleinen Tritten sucht, wird seine in die Bewegungen seines Körpers eingeschriebene Magie spürbar.
„Free Solo“ macht er heute nicht mehr – die denkbar gefährlichste und ungesicherte Spielart des Alpinismus. Die mentale Stärke dafür hatte er jedoch: „Das war gleich klar.“ Die in St. Gallen in der Schweiz gelegene Route „Mordillo“ kletterte Kammerlander „Free Solo“: Eine Route im zehnten Schwierigkeitsgrad. Wenn man ohne Seilsicherung klettert und jeder Fehler den Tod bedeuten könnte, müsse man das seelische Gleichgewicht aufrecht erhalten. Die Angst dürfe kommen, aber dann müsse sie wieder gehen. Eine Frage drängt sich natürlich auf: Kann man so etwas lernen? „Ich glaube“, sagt er „manche Grundstrukturen sind fest. Entweder hast du Lust etwas Wildes zu tun oder nicht.“ Bei seinen eigenen Kindern sieht er das sehr gut, erzählt Kammerlander: „Meine kleine Tochter ist zwar eine ganz Wilde, aber ab einer bestimmten Höhe sagt sie ,Nein‘.“ Die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende hat Kammerlander nie gelesen. Der Visionär aus Nüziders hat sie selbst erlebt.
* Michael Ende, Die Unendliche Geschichte.