Die Fußball-WM findet diesmal in Russland statt. Interessiert Sie diese Tatsache überhaupt? Können Sie mit Fußball etwas anfangen?
Maxim Ossipow: „Fußball ist die schönste Nebensache der Welt.“ Von wem stammt dieser Spruch? Beckenbauer? Mich interessiert die WM. Noch interessanter fände ich es aber, wenn die westlichen Länder ihre Teilnahme verweigerten. Das würde zwar einen Weltkrieg auslösen, und es ist natürlich schade, wegen einer solchen Lappalie umzukommen, aber finden Sie nicht auch, darin läge eine feine Ironie?
Sie leben und arbeiten in einem Ort namens Tarussa. Zu Sowjetzeiten war diese Kleinstadt der „Verbannungsort“ für Künstler aller Art. Wie bzw. wer lebt jetzt in dieser Stadt – und wie muss man sich das Leben dort vorstellen?
Maxim Ossipow: Um auf diese Frage zu antworten, habe ich eine ganze Erzählung geschrieben. Sie heißt „Die Kinder von Canköy“, ist aber noch nicht ins Deutsche übersetzt. Puschkin hat in einem Gedicht geschrieben: „Zwei Dinge sind uns herrlich wert / Sie sind des Herzens Kost und Gabe / Die Liebe zu dem Heimatherd, / Die Liebe zu dem Vätergrabe.“ Kurz gesagt: Tarussa heißt Heim: warm und dein.
Sie sind Arzt und Schriftsteller. Unlängst hat der Wiener Verlag Hollitzer Ihren Erzählband „Nach der Ewigkeit“ veröffentlicht. Was passiert denn – nach der Ewigkeit?
Maxim Ossipow: „Ewigkeit“ ist der Name einer Stadt. Das ist ein Wortspiel. Es geht in der Übersetzung verloren, weil Substantive im Deutschen immer mit einem großen Buchstaben anfangen. Nach der Zerstörung der Stadt „Ewigkeit“ zerbricht auch das Leben meiner Protagonisten.
Viele Ihrer Erzählungen spielen in der russischen Provinz. Wie muss man sich dort, im Gegensatz zu Moskau etwa, das Alltagsleben vorstellen?
Maxim Ossipow: Das ist eine zu umfangreiche Frage. Kurz gefasst: Das Leben in Tarussa ist friedlich, es gibt weniger Nervtötendes in Form aller möglichen Verbote und Schlagbäume, also das, was das Leben in Moskau vergiftet. Die Menschen in Tarussa haben keine Waffen, in Moskau sind sie bis zu den Zähnen bewaffnet.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Die Kirche ist ein Wunder, Dostojewski ist ein Wunder – und dass wir Russen überhaupt noch am Leben sind, ist auch ein Wunder.“ Dieser Satz verlangt nach einer möglichst langen Erklärung, bitte!
Maxim Ossipow: Es ist leicht, über drei Dinge zu schimpfen: die Kirche, Dostojewski und Russland. Aber das Geschimpfe geht an der Sache vorbei, das wollte ich sagen. Wobei ich allerdings betonen muss, dass ich das 2010 geschrieben habe, also vor der großen negativen Wende meines Landes. Heute würde ich das wohl nicht mehr schreiben. Aber wie sagt Puschkin doch: „Die traurigen Zeilen, ich radiere sie nicht aus.“ Umso mehr, als sie schon gedruckt sind.
Wir im Westen sprechen gerne von der „russischen Seele“. Ist das nur ein Klischee? Oder gibt es sie wirklich? Wenn ja, wie sieht sie aus, diese russische Seele?
Maxim Ossipow: Wir haben nicht nur eine russische Seele, sondern auch einen russischen Gott. „Als das Jahr zwölf uns traf mit Schlägen, / Wer half uns da aus unsrer Not? / Der Zorn des Volks, Barclays Strategen, / Der Winter oder Russlands Gott?“ Das ist aus Puschkins Versroman „Jewgeni Onegin“. Ich mag vieles an den russischen Menschen, und die russische Sprache hat wohl eine besondere Intensität im Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber das Gerede von der russischen Seele ist eher schädlich. In dieser Seele steckt sehr viel Gemeinheit und Willkür. „Erhaben über Tinte und Papier, / Eine Inschrift am Reichstag hinterließen wir. / Wir, das ist Sünde, Armut, Knechtschaft ...“ Das stammt von Denis Novikov, einem Zeitgenossen, der so alt wie ich ist. Es wäre gut, wenn wir uns einfach als ein Land wie jedes andere betrachteten. Im 20. Jahrhundert hat Russland viel verloren, besonders Menschen. Anfang des Jahrhunderts war jeder Zehnte Bürger des Russischen Reiches. Jetzt leben auf der Welt weniger als zwei Prozent Russen. Wir haben das 20. Jahrhundert nicht überlebt, wir haben Stalin nicht überlebt. Seele ... Wahrscheinlich hat jedes Volk eine eigene Seele. Bei uns ist Puschkin der Inbegriff dieser Seele. Es ist kein Zufall, dass ich ihn so oft zitiere. Und es ist kein Zufall, dass er am schwersten in andere Sprachen zu übersetzen ist. Und zwar nicht nur seine Verse, sondern – trotz der scheinbaren Einfachheit – auch seine Prosa.
Tarussa ist angeblich eine Oase abseits der Machtkämpfe. Ist das tatsächlich so?
Maxim Ossipow: Wir haben auch unsere kleinen Sträuße, die wir ausfechten. Auf komische Weise und mit Verspätung ist die Provinz eine Kopie von Moskau. Aber auch Moskau ist im Grunde genommen provinziell. Eine Kopie von New York, Berlin und London.
Ihre eigenen Wurzeln sind weitverzweigt. Sie haben jüdische Wurzeln, verstehen sich aber zugleich als russisch-orthodoxer Christ. Wo genau liegt Ihre eigene seelische, spirituelle Heimat?
Maxim Ossipow: Ich möchte diese Frage nicht beantworten. Sie ist mir zu persönlich. Einigen wir uns auf die Formel: Ich bin ein getaufter Jude. Das reicht.
Sie sind, liest man, stark beeinflusst von einem Mann namens Ilja Schmain. Wer war dieser Mann und worin besteht sein Einfluss?
Maxim Ossipow: Oberpriester Ilja Schmain ist mein Lehrer und Freund. Ein Häftling in Stalins Lagern, Mathematiker und Geistlicher. Die Begegnung mit ihm ist eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben. Und wie man Lyrik nicht übersetzen kann, so ist es auch unmöglich, diejenigen, die ihn nicht gekannt haben, mit der Liebe zu meinem Freund anzustecken. Trotzdem habe ich es versucht. Nach dem Tod von Vater Ilja im Jahre 2005 habe ich alles zusammengestellt, was ich zu unseren Gesprächen notiert hatte, und habe es veröffentlicht. Mein erster literarischer Auftritt in der Öffentlichkeit.
Gibt es eine Verbindung zwischen Medizin und Literatur? Sie sind ja nicht der erste schreibende Arzt.
Maxim Ossipow: Richtig. Aber man sollte diese Verbindung nicht überschätzen: Es gibt einfach jede Menge Ärzte. Allein in Russland eine halbe Million. Unter den Schriftstellern finden sich auch viele ehemalige Armeeangehörige, und zwar aus demselben Grund. Als Arzt hat man tatsächlich eine gewisse Berührung mit dem Leben, mit dessen unterschiedlichen Seiten und mit den Vertretern verschiedener Schichten.
Sie sagen, das System Putin sei, medizinisch ausgedrückt, eine Involution. Was genau meinen Sie damit?
Maxim Ossipow: Am genauesten trifft es das Wort Verfall. Die Zerschlagung der öffentlichen Institutionen: unabhängiger Gerichte, der Akademie der Wissenschaften, die faktische Einführung der Zensur in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen, Scheinwahlen und vieles mehr. Das ganze öffentliche Leben ist zu Facebook abgewandert. Hinzu kommt die Ausrichtung des Bewusstseins auf die Vergangenheit, die Zukunft kommt nicht vor, es wird nur über die Vergangenheit geredet. Und die war großartig. Weshalb man sie nicht im Ernst diskutieren, geschweige denn – da sei Gott vor – verurteilen darf. Viele tüchtige junge Menschen: Wissenschaftler, Musiker und Ärzte wandern aus. Es gibt politische Gefangene, das Land isoliert sich immer mehr, die ewige Gekränktheit durch den Westen ... Ein trauriges Bild.
Sie schreiben: „Mörder sind durchschnittliche Menschen.“ Das erinnert mich an Hannah Arendts Buch „Die Banalität des Bösen“. Wollten Sie das mit diesem Satz ausdrücken? Dass das Böse „normal“ ist und banal und nicht eine Art von „bösem Heroismus“?
Maxim Ossipow: Als meine Schwester und ihr elfjähriger Sohn einem Raubmord zum Opfer gefallen waren und ich die Mörder vor Gericht sah, war ich konsterniert, wie wenig sie sich von ganz normalen U-Bahn-Fahrern oder Passanten auf der Straße unterschieden. Ich bin natürlich nicht der Erste, der das feststellt. Aber für mich war das eine unheimlich einschneidende persönliche Erfahrung.
Sie haben Putin selbst einmal gewählt und bereuen das angeblich bis heute. Wie kam es zu dieser Entscheidung, Putin zu wählen?
Maxim Ossipow: 2000, ein paar Monate nach dem Tod meiner Schwester und meines Neffen, fanden Wahlen statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Mörder noch nicht gefunden. Ich sehnte mich damals nach einem Polizeistaat, ich verstand damals nicht, dass das keine Lösung, sondern nur ein Schritt in die Richtung neuer Gesetzlosigkeit ist.
Sie betreiben noch immer eine Arztpraxis in Tarussa. Welche Diagnose würden Sie als Arzt Ihrem Land Russland stellen?
Maxim Ossipow: Die Freiheit wird einem nicht zweimal geschenkt. Und trotzdem glaube ich, wir haben eine Chance. Das ist allerdings eine Glaubensfrage und beruht nicht auf rationalem Wissen.
Ihr Schreibstil wird mit jenem von Michail Bulgakow verglichen. Ihr Stil sei clownesk-teuflisch. Was sind Sie mehr: Clown oder Teufel?
Maxim Ossipow: Wenn ich ehrlich sein soll: Ich sehe bei mir keine Nähe zu Bulgakow. Ich sehe auch nichts Clowneskes oder Diabolisches. Aber da müssen wohl andere drüber urteilen.
Ein Zitat von Ihnen: „In der Mitte Russlands ist es schön. Denkt man nicht daran, was der Mensch so treibt, sogar sehr schön.“ Das Problem ist also, wie überall auf der Welt, der Mensch?
Maxim Ossipow: Ja, was denn sonst?
„Was auch immer passiert, die Welt wird nicht auseinanderbrechen“, schreiben Sie. Auch wenn Russland nicht zerbrechen wird, was erwarten Sie für die Zukunft dieses Landes?
Maxim Ossipow: Sie haben mich falsch verstanden. Unsere persönliche Welt, die Welt unserer Familie und die Welt eines ganzen Landes können zerbrechen. Unsere ganze Zivilisation kann untergehen, aber was an die Stelle treten wird, ist nicht das Nichts wie beim Computer, wenn er abstürzt. Die Welt des Möglichen ist sehr viel größer als die Welt des Wirklichen, das ist mit diesem Satz gemeint.
Scherzfrage zuletzt: Wer wird Fußballweltmeister?
Maxim Ossipow: Panama. Aber Spaß beiseite. Wir haben eine Redensart: Siegen wird die Freundschaft. Jedenfalls wird bei der WM nicht die Freundschaft siegen.
Aus dem Russischen von Birgit Veit