Die Nacht dämmert, die weißen Membranwände der Arena glimmen auf, aus der Ferne wirkt das Stadion Kaliningrad jetzt wie ein riesiges UFO, das auf den leeren Ebenen der Oktoberinsel gelandet ist. Aber drinnen schwillt sehr irdischer Lärm, die Ultras hinter dem Gästetor skandieren „Baltika, Baltika“, nach der nächsten vergebenen Chance stimmt das ganze Stadion ein, „La Ola“ schwappt durchs Rund. Das Spiel zwischen dem FK Baltika Kaliningrad und dem FK Chimki rumpelt einem frustrierenden null zu null entgegen, aber die fast 26.000 Zuschauer feiern. Sie feiern ihr neues Stadion, seine tolle Akustik, sie feiern den Fußball als Hoffnung.

Am 14. Juni startet die WM in Russland. Kaliningrad, das frühere Königsberg, gehört zu den elf Austragungsorten. Hier tritt am 22. Juni auch die Schweiz zum wohl entscheidenden Gruppenspiel gegen Serbien an. Im mit 35.200 überdachten Plätzen kleinsten Stadionneubau, der aber der kostspieligste ist. Böse Zungen verspotten das Bauwerk auf der sumpfigen Oktoberinsel als Schildbürgerstreich, aber die Fußballfans hier hoffen auf ein neues Leben nach der WM. Gouverneur Anton Alichanow trägt einen roten Trainingsanzug mit Nationalwappen, als er vor dem Anpfiff die Pressetribüne inspiziert.

Das Stadion in Kaliningrad aus der Vogelperspektive
Das Stadion in Kaliningrad aus der Vogelperspektive © (c) AP

Alichanow, mit 31 Jahren Russlands jüngster Gebietsgouverneur, hat gesagt, um die Arena rentabel zu machen, müsse dort nach der WM eine Premjer-Liga-Mannschaft kicken. Es gelte aufzusteigen, wenn nicht diese, dann nächste Saison. Aber unsere Frage, ob das Stadion dann auch ohne Unterstützung eines großen Sponsors den Verein ernähren könne, ärgert den Gouverneur. „Es gibt auf der Welt keinen großen Klub ohne große Sponsoren“, antwortet er. „Ich verstehe nicht, worin sich Russland da von anderen Ländern unterscheiden soll.“

Natürlich haben auch westliche Profiklubs Sponsoren. Aber diese sind meist nicht ihre Haupteinnahmequelle. So teilen sich die Vereine der Deutschen Fußballliga jährlich 1,16 Milliarden Euro aus TV-Rechten. Die Fernseheinnahmen der russischen Premjer-Liga betragen gerade 21 Millionen Euro, 55-mal weniger. Ohne Gazprom, Lukoil oder die russische Eisenbahn als Geldgeber spielt in Russland kein Klub oben mit. „Haben Sie Aussicht auf einen großen Sponsor, Herr Alichanow?“ – „Es wird welche geben.“ – „Kann man sie nennen?“ – „Nein.“

Gouverneur Anton Alichanow
Gouverneur Anton Alichanow © Vitaly Nevar/TASS (Vitaly Nevar)
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Wie auch andere russische Offizielle sagt der Gouverneur, man wolle die beste aller Fußball-WMs ausrichten, noch wichtiger aber sei die Infrastruktur, die sie hinterlasse. Ohne Aufstieg könnte diese Infrastruktur allerdings eine Nummer zu groß sein. Die Oktoberinsel hieß früher Lomse, altpreußisch so viel wie schwankendes Land. Den Westzipfel dieser Sumpfinsel bebauten die Preußen, gerade wird dort die 1938 zerstörte Synagoge neu errichtet. Die Morastwiesen weiter östlich aber trugen Schrebergärten – bis zur WM.

Jetzt fühlt sich der Boden vor dem Stadion statt nach Sumpf nach Steppe an. „Aber das Stadion ist auf Sumpf gebaut“, ein einsamer Spaziergänger stellt sich als Stanislaw vor, pensionierter Ingenieur. „Deshalb haben sie Unsummen ausgegeben, 24 Meter lange Betonpfeiler in die Erde gerammt, diese waren zu kurz, mussten mehrfach verlängert werden.“ Das Stadion war teuer. Knapp elf Millionen Euro kassierte die Omsker Baufirma Mostowik nur für die Projektierung, laut der Aufsichtsbehörde Glawgosekspertisa dreimal mehr als nötig. Beim Trockenlegen der Insel karrten Subunternehmer viel weniger und schlechteren Sand heran als vereinbart. Allein die Firma GlobalElektroServis des inzwischen verhafteten Dollarmilliardärs Sijawudin Magomedow soll so zehn Millionen Euro unterschlagen haben.

Blick ins Stadion von Kaliningrad
Blick ins Stadion von Kaliningrad © AP

Finanziell geriet die Arena zum Königsberger Klops, 17,8 Milliarden Rubel teuer, umgerechnet 235 Millionen Euro. Ein vergleichbares Bauwerk, das Tivoli-Stadion im westdeutschen Aachen mit 33.000 Zuschauerplätzen kostete 46 Millionen Euro und riss den Zweitligaverein Alemannia Aachen in den Konkurs. Zwei Spieltage später ist klar: Der FK Baltika steigt nicht auf. Der Saisonetat von nur drei Millionen Euro, laut dem Fachportal soccer.ru der viertkleinste aller Zweitligisten, reichte nur für den fünften Platz.

„Für die Premjer-Liga brauchst du eine gute Milliarde Rubel“, sagt Vereinssprecher Sergei Kandalow, also 13,5 Millionen Euro. Man verhandle mit einem nationalen Großunternehmen als neuem Sponsor, aber ohne Aufstieg sei der Ausgang dieser Verhandlungen fraglich … Es klingt nach Teufelskreis. Das alte Baltika-Stadion im Stadtzentrum hieß früher Walter-Simon-Sportplatz, 1892 eröffnet, Russlands ältestes Fußballstadion. Auf der Haupttribüne warten Konstantin und einige andere Mitglieder des Fanklubs „Baltizy“. Sie gehören zu den etwa 150 weißblauen Ultras, die bei den ersten Spielen die ganze Arena zum Skandieren brachten. Auf der Flagge, die sie ausbreiten, steht noch der alte Name ihres Fanklubs: Königslegion.

Konstantin Duppo (Mitte) und andere Baltikafans auf der Tribüne des alten Baltika-Stadions
Konstantin Duppo (Mitte) und andere Baltikafans auf der Tribüne des alten Baltika-Stadions © Stefan Scholl

„Vor einigen Jahren hatten wir Rosatom als Sponsor“, erzählt Konstantin, „weil in der Region ein Atomkraftwerk gebaut wurde.“ Aber 2014 wurde das Projekt eingefroren und damit auch die Rosatom-Hilfe für Baltika. Es mangele Kaliningrad einfach an Großkonzernen und deshalb an einem stabilen Sponsor für den Klub. Aber die „Baltizy“ hoffen, dass Baltika es nächste Saison schafft – mit oder ohne große Sponsor. „Das neue Stadion ist eine Pracht“, sagt einer. „Da darf man eigentlich nicht schlecht spielen!“ Die Männer haben sich zuerst einmal Karten für die WM-Spiele gekauft.