Drei Stunden vor dem Spiel sind ein Dutzend Rot-Weiße am Tisch versammelt, wo Biergläser stehen und Fritten. Auf den TV-Bildschirmen vergibt Tabellenführer Lokomotive Moskau gerade eine Chance gegen Zenit Sankt Petersburg, die Rot-Weißen, Fans des Tabellenzweiten Spartak Moskau, klatschen Beifall. „Spartak ist eine Validol-Mannschaft“, verkündet derweil Ruslan Newerow. „Und was ist eine Validol-Mannschaft?“ „Wenn Spartak spielt, braucht man Herztabletten“, erläutert Ruslan. „Wir können gegen Favoriten über uns herauswachsen, aber dann gegen viel schlechtere Mannschaften verlieren. Unsere Nationalmannschaft ist genauso. Unvorhersehbar.“
Die Kneipe im Moskauer Nordwesten heißt „Wir glauben an die Mannschaft“. Eine Spartak-Kneipe, Russlands populärster Klub hat etwa zwei Millionen aktive Anhänger, ein Fünftel aller Fans der russischen Premjer-Liga. Einen Monat vor der ersten Fußball-WM in Russland wappnen sich alle mit Humor und Validol, dafür, wieder einmal mitzuleiden mit ihrer „Sbornaja“. Im „Wir glauben an die Mannschaft“ klirren die ersten Kognakgläser. Aber die Kante gibt sich hier niemand.
Die Spartak-Fans mögen sich selbstironisch „Fleisch“ oder „Schweine“ nennen, aber hier sitzen Frauen mit am Tisch, zwei Knirpse spielen eifrig Tischfußball, auch in Moskau sind Erstligaspiele längst Familienfeste. „Als ich klein war, merkte ich, dass beim Hockey der Puck kaum zu sehen ist, ich fing an, mitzuschauen, wenn mein Vater Fußball schaute“, erzählt Marina Chorina, Wirtschaftsdokumentarin. „Papa erklärte mir die Regeln, und er war Spartak-Fan.“ Fußball sei das schönste, das unvorhersehbarste Spiel der Welt.
Marina gilt als die Seele der Facebook-Fangemeinde „Spartak ist unser Schicksal“, insgesamt 50 Leute gehören dazu: Studenten, Arbeiter, Ingenieure, auch Generaldirektoren, die sich bei Heimspielen auf der „Fanatka“ versammeln, der Stehtribüne hinter dem Tor. Marina freut sich schon auf die WM zu Hause. „Das hat es noch nie gegeben, das wird ein Fest.“ Laut FIFA wurden bis Mitte April über die Hälfte der WM-Tickets verkauft, fast 1,7 Millionen, knapp 800.000 davon an Russen. Aber die vaterländischen Fans haben unterschiedliche Pläne für ihre WM. Marina will auf jeden Fall die Moskauer Fanzonen besuchen.
Der Pensionär Waleri Botnikow spielte früher selbst Fuß- und Volleyball, er wohnt in Tscheboksary – zwischen den WM-Austragungsorten Kasan und Nischni Nowgorod, aber er winkt ab: „Ich schau Fernsehen, die Karten kosten ja mehr als meine Rente.“ Er bezieht 13.000 Rubel Rente, gut 170 Euro.
Konstantin Duppo aus Kaliningrad, IT-Fachmann und Führer des Fanklubs „Baltijzy“, gehört zu jenen 15 Fans des Zweitligisten Baltika Kaliningrad, die ihrer Mannschaft in dieser Saison sogar nach Wladiwostok folgten, 7300 Kilometer entfernt. Er hat sich Karten für drei WM-Partien in Kaliningrad besorgt: Serbien – Schweiz, Spanien – Marokko. Und England – Belgien, die Tickets kosteten umgerechnet 30 bis 230 Euro. „Ich werde zu unseren Brüdern, den Serben, halten. Und zu den Engländern, die sind schließlich das Mutterland des Fußballs.“
Seit den brutalen Schlägereien, die sich Russen bei der EM in Frankreich 2016 besonders mit Engländern lieferten, hängt ihnen das Image an, vor allem Kampfsportfanatiker zu sein.
Aber Moskaus Experten sind sich einig, dass die Sicherheitsorgane die Minderheit der Schläger fest an der Kandare haben. Und die friedlichen Spiele des letztjährigen Confederations Cup haben gezeigt, dass die Masse der russischen Fußballanhänger von den ausländischen Fans vor allem eins will: mit ihnen feiern. Was Fußball angeht, pfeifen die Russen auf die aktuellen außenpolitischen Feindbilder.
Sie himmeln Europa an, wollen sein wie der FC Barcelona oder Jürgen Klopp. Und die Älteren erinnern sich mit Wehmut an die Zeiten, als sowjetische Nationalspieler selbst tragende Rollen im großen Weltdrama Fußball spielten. „Am stärksten war die Generation, die 1960 Europameister wurde und 1966 ins WM-Halbfinale kam. Die 2:1-Niederlage gegen Deutschland war knapp, ein Duell auf Augenhöhe“, sagt Waleri. Damals spielte die „Sbornaja“ schnellen Kombinationsfußball, Torwart Lew Jaschin wurde Europas Fußballer des Jahres. „Damals waren unsere Spieler Romantiker“, seufzt Waleri, „heute dreht sich alles ums Geld.“ Fußball ist für russische Fans mehr als nur Sport, Fußball bedeutet für sie die große, weite Welt. „Fußball“, zitierte der Sportjournalist Igor Poroschin 2010 in einem berühmten Blog den Jamaikaner Bob Marley, „ist Freiheit.“
Das russische Wort für Fan lautet Bolelschtschik, einer, der mit seiner Mannschaft mitleidet bis zum Krankwerden. Doch für große Leidenschaften bedarf es großer Spiele. Die lieferte die „Sbornaja“ zuletzt unter Guus Hiddink, bei der EM 2008 schlug sie die Niederlande, kam wieder ins Halbfinale. Seitdem aber hagelt es Pleiten. „Ich liebe die Nationalmannschaft, sie spielt ehrlich, sie verdient sich ihre Ergebnisse mit Schweiß und Tränen“, philosophiert Ruslan. „Aber Spartak liebe ich nicht nur, an Spartak glaube ich auch.“ „Wenn wir nicht in der Vorrunde ausscheiden, geht es wohl gegen Spanien und da sind die Chancen sehr klein“, fürchtet Konstantin aus Kaliningrad. Die Spartak-Fans im „Wir glauben an die Mannschaft“ sympathisieren mit Spanien, mit dem großen italienischen Torhüter Buffon, der ja leider fehle. Und sie haben einen lakonischen Witz auf Lager: „Zu wem hältst du?“ – „Natürlich zu Russland!“ – „Und danach?“
Zwei Kognakgläser später bestellt Ruslan ein Taxi zum nahen Stadion. Als wir einsteigen, klingelt Marinas Handy: Kurz vor dem Abpfiff hat Lokomotive gegen Zenit getroffen, damit sind Spartaks Titelchancen dahin. Warum Spartak vor allem in der ersten Saisonhälfte von der Rolle war? „Mentalität“, seufzt Ruslan. „Allgemeine Siegestrunkenheit. Nach der Meisterschaft haben alle drei Monate gefeiert. Wir, aber auch die Spieler“, er lächelt. „Das sind doch auch nur Menschen.“ Russlands Bolelschtschiki sind in der Lage, ihren Fußballern sehr viel zu verzeihen.