Es ist ein echtes Schauspiel, wenn sich Zehntausende Menschen am 14. Jänner zu Makar Sankranti, der Wintersonnwende, in die eiskalten Fluten des Ganges werfen. Mit Inbrunst geben sich die Pilger – vom Greis bis zum Baby – dem Fluss, ihrer „Ganga Mata“, der Mutter Ganges, hin.
Für die Hindus ist es mehr als ein religiöses Ritual, das längst zur Gewohnheit geworden ist – ganz im Gegenteil: Wer sich dem Ganges hingibt, hofft darauf, dem ewigen Zyklus der Wiedergeburt endlich zu entkommen. Der Fluss ist das wichtigste Werkzeug dazu. Zahlreiche wichtige Pilgerstätten liegen entlang seiner 2500 Kilometer Länge, darunter Gangotri, Badrinath, Rishikesh, Haridwar, Allahabad und Varanasi. Jeder Ort eine Verheißung, eine neue Hoffnung.
Ganges und Gott Shiva
Es ist Gott Shiva, der untrennbar mit dem Ganges verbunden ist. Er ist neben Brahma (dem Schöpfer) und Vishnu (dem Bewahrer) Teil der hinduistischen Trinität, dort verkörpert er nicht nur die Zerstörung, sondern auch den Neubeginn.
Der Mythos von der Entstehung des Flusses erzählt die Geschichte des Königs Baghirata, dessen Vorfahren den Weisen Kapila bei der Meditation störten und so ihr Todesurteil besiegelten. Um ihre Asche vom Fluch des Kapila zu reinigen und ihnen so Eingang ins Paradies zu gewähren, bat Baghirata Shiva um Hilfe. Dieser schickte den Ganges auf die Erde. Um jedoch den kräftigen Fluss zu bändigen, ließ der Gott Ganges durch sein Haar fließen. Neben Tigerfell und Dreizack gehört die Wasserfontäne somit zu den wichtigsten Attributen Shivas.
Der Glaube an die Göttlichkeit des Flusses erreicht bei Varanasi, dem ehemaligen Benares, seinen Höhepunkt: Täglich finden sich hier rund 80.000 Menschen ein, um an den berühmten Stufen zum Fluss, den Ghats, eine rituelle Waschung zu vollziehen. Varanasi nimmt eine Sonderstellung ein: Wer hier stirbt und an den Ufern verbrannt wird, durchbricht die Spirale der Wiedergeburt, so zumindest der Glaube. 24 Stunden pro Tag lodern an den Ghats die Feuer, werden nach einer uralten Tradition die Toten, die nicht selten in die Stadt kommen, um hier zu sterben, verbrannt. Wer frühmorgens mit dem Boot den Sonnenaufgang am Ganges bestaunt, wird von der Idylle jäh ins kalte Wasser geworfen: Nicht selten treiben halb verkohlte Leichen, aber auch ganze Körper vorbei, denn die Entscheidung, ob ein Toter verbrannt werden darf, beantwortet allein die Todesursache.
So wird man stummer Zeuge dessen, was der Fluss für die Inder ist: Heiligtum, Badezimmer, Trinkwasserbrunnen. Während Eltern ihr totes Baby dem Fluss übergeben, wäscht sich daneben ein Mann die Haare, ein Stück weiter nehmen Pilger ein rituelles Bad – ein Schluck Flusswasser inklusive. Selbst der tiefste Glaube wird hier keine Wunder wirken, denn in Varanasi ist der Ganges dermaßen verdreckt, dass er ein akutes Gesundheitsrisiko darstellt. Gelten in Indien 500 Kolibakterien pro 100 Milliliter Wasser als Grenzwert für Badewasser, wird der Wert in Varanasi um das 3000-Fache überschritten.
Kein Wunder, bei den 3,6 Milliarden Litern Abwasser, die täglich in den Fluss gepumpt werden. Dabei hat der Ganges eine noch viel wichtigere Aufgabe: Immerhin jeder 13. Bewohner der Welt ist vom Fluss abhängig. Dass es immer noch Versuche gibt, den Fluss zu säubern – erst im Oktober hat die EU eine Initiative gestartet –, ist wohl das wahre Wunder.