Die Ergebnisse der letzten Wahlen haben Europa in Alarmstimmung versetzt: die Mitte verliert zusehends, die Parteien an den Rändern – rechts und links – gewinnen massiv. Die Gründe dafür haben sich zuletzt nochmals verstärkt, meint Harmut Rosa, Professor für Soziologie an der Uni Jena und vergangene Woche zu Gast in Graz. „Zukunft funktioniert nur, wenn wir wissen, wo wir hinwollen. Und dieser Zukunftshorizont trübt sich immer mehr ein.“
Aufbruchstimmung fehlt
Die Mehrheit schaue heute pessimistisch auf das Kommende, insbesondere Jugendliche: „Wir nehmen sie nicht mehr als jenen Teil der Gesellschaft wahr, der für Aufbruch steht, für die Triebkraft hinter Transformation.“ Das sei nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika oder Asien so, analysiert einer der bekanntesten Wissenschafter Deutschlands. „Früher sprach man in der Glücksforschung von einem Lebens-U, heute von einem liegenden L.“ Während in der Vergangenheit also zwei Hochphasen ein Mal, ungefähr in der Mitte des Lebens, unterbrochen wurden, findet man glückliche Menschen heute immer häufiger nur im fortgeschrittenen Alter.
Angst statt Verheißung
Dass Jugendliche passiv sind, weist der Soziologe jedoch zurück: „Wir brauchen uns nur anzuschauen, mit welcher Ernsthaftigkeit sie Bildungsabschlüsse machen.“ Das Problem sei vielmehr, dass sich zwar alles rasanter bewege, was aber keinesfalls mit Vorwärtskommen gleichzusetzen sei: „Will man heute am Fleck bleiben, muss man also schon schneller ins Pedal treten. Die Gesellschaft hat das Gefühl, die Zukunft verloren zu haben. Wir sind nicht mehr von der Verheißung getrieben, sondern von Angst.“
„Hörendes Herz“
Rosas Gegenvorschlag: wieder mehr Resonanz ins Leben bringen. „Demokratie ist das Versprechen, dass jeder eine Stimme hat. Aber jeder hat auch Ohren.“ Es gehe darum, nicht nur seine eigene Meinung kundzutun, sondern auch den anderen zu hören. Er verweist dabei auf König Salomo, über den die Bibel erzählt, dass er ein „hörendes Herz“ gehabt habe. Als Abnicken will es der Soziologe aber keinesfalls (miss-)verstanden wissen: „Resonanz heißt nicht Konsonanz (Gleichklang, Anm.) Es geht darum, dass beide in einem Gespräch transformieren.“
Erhalt nur durch ein immer Mehr
Entsprechend ortet er hinter den letzten Urnengängen bei vielen Wählern vor allem ein Gefühl der Ohnmacht, ein Nicht-Gehört, ein Nicht-Gesehen werden. „Wir haben einen politischen Betrieb, der immer aufgeregter und zugleich immer unresonanter wird.“ Diese Aufgeregtheit sei es auch, die immer mehr Menschen in einen Aggressionsmodus bringe – anderen Menschen gegenüber aber auch der Natur. Und auch dahinter ortet Rosa das gegenwärtige Getriebensein: Immer schneller, immer mehr, immer eruptiver. „Ich nenne das dynamische Stabilisierung: Die Gesellschaft kann sich nur durch Steigerung erhalten.“ Die Menschen hätten schon jetzt das Gefühl nicht mehr viel schneller laufen zu können. Aber sie wüssten, nächstes Jahr müssten sie es tun und übernächstes Jahr noch einmal mehr. „Der Mensch ist mit sich selber im Krieg, der Körper ist nie gut genug, die Psyche ist nie gut genug.“ Kosmetik und OPs, Psychopharmaka oder knallhartes sportliches Regime seien Versuche, den Mangel zu beheben.
Transzendenz und Transformation
Eine mögliche Lösung dafür liegt in der Religion und ihrer anderen Sicht auf die Welt, ist Rosa überzeugt: „Wenn Sie in eine Kirche, einen Tempel, eine Moschee gehen, ist es dort still, dunkel, es gibt nichts zu tun.“ Dieser andere Blick in zeitlicher Hinsicht zeige sich an den Feiertagen, wenn die Geschäfte zu sind und keiner arbeitet. Im rituellen Bereich stehe das Gebet für diesen anderen Zugang, da es sich gleichzeitig nach innen und außen wendet. „Ich nenne das Anrufbarkeit. Und diese ist auch für eine Demokratie wichtig.“ Mit „Transzendenz“ und „Transformation“ hebt der Soziologe den Begriff dann auf eine höhere Ebene. Beide Begriffe gemeinsam seien eine Möglichkeit, Religion zu definieren. „Transzendenz bedeutet, dass Dinge einen Wert haben, unabhängig davon, ob sie für mich einen Wert haben. Und Transformation, dass sich am Ende eines Gesprächs beide bewegt haben.“ Und gerade in diesem Resonanzraum könne Neues entstehen. Er wolle dabei das Janusgesicht von Religion nicht ausblenden, etwa die Tatsache, dass Macht die Kommunikationsachsen zerstören könne.
Dass Transzendenz und Transformation in der heutigen Gesellschaft zu kurz kommen, davon ist er ebenso überzeugt: „Kinder haben morgens nicht mehr denselben Schulweg. Und ohne die Stammtische schönreden zu wollen – da gab es ja auch viel Sexismus oder Xenophobie: Heute gibt es immer weniger Orte, an denen überhaupt solche Resonanzbeziehungen hergestellt werden können.“ Die Lebenswelten separieren sich immer weiter.
Überschäumende Empörung
Die Rolle der Sozialen Medien sei dabei eine spezielle: „Wir haben Echokammern. Das heißt: Wir schauen uns an, was der andere sagt, sprechen aber nicht mit ihm, sondern mit unseresgleichen darüber, um unsere Meinung bestätigt zu erhalten.“ Dadurch koche die Empörung immer weiter hoch. „So weit, dass es am Ende heißt: ‚Dieses Schwein muss weg!‘“ Welche leiseren Alternativen bleiben also? Das Parlament? Nein. Die Straße? Nein. Die Talkshow? Nein. Kirche könne allerdings so ein Ort sein, ein Resonanzraum, der das Herz zum Hören bringt.