Wer mit Cello reist, braucht immer einen zweiten Platz. Die Anreise dauert letztlich 30 Stunden. Mit dem Bus. Der Luftraum ist kriegsbedingt gesperrt. Meinhard Hollers Ziel ist zunächst die Stadt Chmeljnickij in der Ukraine, östlich von Lemberg. In Absprache mit dem dortigen Direktor der Philharmonie, Taras Malyk, bietet er hier in Musikschulen und Konservatorien Cello-Seminare an, um den kriegsgebeutelten Menschen ein bisschen Helligkeit in ihre dunklen Zeiten zu bringen. Kummerkasten wird das Cello schließlich auch genannt, weil sein Klang immer ein wenig melancholisch klingt.
Holler macht das alles auf eigene Kosten, die Kontakte hat er von seinem Musiker-Freund, dem Kiewer Pianisten und ehemaligen Professor an der Musikakademie in der ukrainischen Hauptstadt, Yuri Kot, der mittlerweile selbst ein Flüchtling ist.
Meinhard Holler ist seit vielen Jahren Cello-Lehrer in München, seine zweiwöchigen Pfingstferien kommen ihm heuer gerade recht. Seit 2001 leitet er jeden Sommer außerdem seine „Colluvio“-Kammermusikkurse gemeinsam mit anderen Musikerinnen und Musikern auf Gut Hornegg südlich von Graz, von wo er herkommt. Die neun bis zwölf jungen Musizierenden dieser Kurse sind großteils um die 20 Jahre alt.
Holler kennt Menschen aus aller Frauen und Herren Länder, ein länderübergreifender Austausch ist daher naheliegend. So musizierte heuer eine geflüchtete Ukrainerin gemeinsam mit einer Russin. Friedlich und bei aller Wehmut auch fröhlich. Das Verbindende der Musik war bei den beiden stärker als das Trennende des Kriegs. Und genau das ist es, was Holler seit Jahren antreibt.
In Chmeljnickij wird der 54-Jährige im Gästeapartment der Philharmonie untergebracht. Sein Zimmer grenzt direkt an den Großen Saal, die Musik ist ihm auch hier von früh bis spät treue Begleitung.
„Der Philharmonie-Direktor hat mir heute gesagt, dass er dafür kämpft, die Musiker seines Orchesters vor der Mobilisierung zu bewahren. Es müssen dennoch viele zur Front. So haben die Kinder hier auch immer weniger Lehrer.“
Chmeljnickij ist eine Industriestadt mit knapp 300.000 Einwohnern. „Die Menschen sind konstruktiv, nicht per se deprimiert“, schildert Holler uns beim Treffen im weitläufigen Park von Gut Hornegg. Die Menschen hätten ein Bedürfnis nach Musik. Für viele, die er in der Ukraine kennenlernt, sei Musik ein Lebensmittel und manchmal geradezu „ein Rettungsanker“. Musik gab es in der Ukraine in Zeiten des Krieges von Anfang an, in U-Bahn-Stationen genauso wie in Bunkern. Zwischen den Terzen und Tonleitern tauchen aber immer wieder die Sirenen auf, es gibt Luftalarm, Raketenalarm.
Einen erfolgreich abgewehrten Drohnenangriff samt Sirenen und einer aufmarschierenden Armee-Einheit habe er einmal sogar verschlafen, weil er nach dem vielen Erklären so todmüde war. In einer der Musikschulen, in denen Holler Unterricht gibt, werden in den Pausen Tarnnetze geknüpft. „Der Krieg ist allgegenwärtig“, erklärt er uns, „aber genauso allgegenwärtig ist auch die Hoffnung der Menschen.“
„Der 17-jährige Andrej ist ein Poet auf seinem Instrument, hat aber ein derart schlechtes Cello (gekauft!), dass ich ihm vieles nicht zeigen konnte. Es klingt, als wenn eine Gans oder ein Schwan einen anfaucht. Man müsste eine Spendenaktion organisieren. Ich habe so etwas früher zum Teil schon in Serbien umgesetzt, wo die Lage auch nicht viel besser ist, obwohl der Krieg dort schon 25 Jahre vorbei ist.“
Die Schulen in der Ukraine haben jetzt im August schon wieder begonnen, weil die Menschen befürchten, dass die russischen Angriffe auf die Infrastruktur in der Ukraine im Herbst und Winter so stark sein werden, dass es unmöglich wird, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten.
„Eines wird einem klar bei derlei Initiativen. Wir leben bei uns in Mitteleuropa in einer Blase, einer glücklichen, schönen, gesunden, während an anderen Stellen der Erde, an den meisten, das Leid und der Bedarf an Bildung unermesslich sind.“
Vom Klavierstimmer Saša erfährt er, dass dieser sich ausschließlich mit dem Auto durch die Stadt bewegt, niemals zu Fuß unterwegs ist: „So fassen ihn die Polizisten nicht, um ihn zur Armee zu schicken“, sagt Holler. Die Autos würden nicht angehalten werden, die Fußgänger schon. Saša sei 57 Jahre alt, in diesem Alter wolle er nicht an die Front.
„Wenn ich abends in die Stadt spaziere, sind in ganzen Stadtvierteln die Straßenlaternen abgeschaltet. Die Cafés und besonders die Gastgärten sind bei dem herrlichen Wetter voll, doch an den Abenden sitzen alle nur bei Kerzenlicht zusammen.“
Die Schülerinnen und Schüler hätten ihn „unglaublich herzlich“ aufgenommen. „Musik ist für mich eine Suche, die immer erfolgreich ist, auch wenn das Gesuchte nie ganz gefunden werden kann“, ist Holler überzeugt.
Schon 2010 initiierte der Steirer ein besonderes Musikprojekt, damals mit Albanern und Serben aus dem Kosovo sowie Österreichern, Deutschen und Schweizern. Entstanden ist dabei der Film „Musik nach dem Krieg - Kosovo zwischen Trauma und Neubeginn“ des Dokumentarfilmers Walter Wehmeyer. Darin sagt der junge Cellospieler Nenad: „Es muss aufgehört werden damit, sich zu fragen: Wer hat wem etwas Schlechtes getan? Denn im Krieg ist niemand unschuldig.“ Trost spende allein die Musik.
Anmerkung: Die gefetteten Passagen stammen aus Meinhard Hollers Briefen aus der Ukraine an Familie und Freunde.