„Oh, durch die Nächte schluchzt bis an die Sterne mein Männerblut“, lässt Gottfried Benn in einem Gedicht Don Juan sagen. „Seine Trauer diente ihm als seine Wegzehrung. Sie nährte ihn in jeder Hinsicht“, erklärt Peter Handke in „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“. Und auch in Romeo Castelluccis Augen ist Don Giovanni offenbar ein Glücksritter von der traurigen Gestalt, genauso ein Gewinner (als Machtmensch und scheinbar unwiderstehlicher Fraueneroberer) wie ein Verlierer (als ewig Suchender und Scheiternder).

Intendant Markus Hinterhäuser hat dem italienischen Regisseur wie zuletzt schon bei der „Salome“ von Richard Strauss heuer die Gelegenheit geboten, Mozarts Oper ein zweites Mal zu inszenieren. Dafür sei er dankbar, sagte der 63-Jährige aus Cesena im Vorfeld, denn der „Don Giovanni“ sei für ihn wie ein Ozean: So vielschichtig, dass man ein Leben lang daran arbeiten könne, „man kann nie alles fassen, entdeckt immer was Neues“.

Verfeinert, nicht verändert

Die Zuschauer werden im Vergleich zur Erstversion 2021 nur bei scharfer Erinnerung Neues sehen. Ganz bewusst, denn Castellucci hat hauptsächlich verfeinert und nicht verändert, an der Form etwas gefeilt, ein völlig anderer „Don Giovanni“ stand ihm nicht im Sinn. Freilich: Diesmal fällt keine Limousine aus dem Schnürboden, sondern hängt nur. Dafür führen zwei Kopiermaschinen, Synonyme für Giovannis 2066 Eroberungen, quasi einen Paartanz auf. Diesmal fehlt eine erotische Tänzerin im Nude Look bei der Fast-Verführung von Zerlina, dafür gab es kopulierende Marionetten – unnötigerweise, auch wenn der Premierentag der „Internationale Tag des Sex“ war. Nicht alles ist Verbesserung in dieser Überarbeitung, aber Verdichtung allemal.

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Größere Veränderungen gab es sehr wohl bei den Besetzungen, ein Quintett aus der Solistengruppe ist neu, und statt des musicAeterna Orchestra und dessen Chor sind nun das Utopia Orchestra und dessen Chor im Einsatz; an der hohen Qualität der Musik hat sich dabei aber nichts geändert.

Castellucci zeigt die Figur des Giovanni also wieder in der Ambivalenz von Vitalität und Zerstörung. Auch wenn er selbst das betont nicht so sieht: In Wahrheit ist der Unedelmann und Beischlafwandler in der in Sevilla spielenden Oper auch so etwas wie ein Jedermann. Nur auf seinen Vorteil bedacht, auf die Moral pfeifend, ein Gotteslästerer, Grenzüberschreiter, Weltauslacher. Memento mori – an den Tod denken? Ja, schon, aber nur an den kleinen Tod! Castellucci zeichnet wie schon vor drei Jahren im Großen Festspielhaus das Psychogramm eines Kaputtmachers. Klaviere, Basketbälle, Puppen, Menschen, Frauen: Alles wird hin. Letztlich auch der seit 400 Jahren bekannte MeToo-Täter selbst, wenn er sich nackt und zuckend in weißer Farbe suhlt und der Höllenfahrt entgegenrutscht.

Überbordende Bilderflut

Castellucci betont als hoch kreativer Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner das, was auch Davide Luciano, der wieder den Giovanni gibt, an Mozarts Musik begeistert: „Die Elemente des Komischen, des Dramatisch-Dunklen, des Übernatürlichen und des Abstrakten.“ In einer überbordenden Bilderflut inszeniert der Italiener das Spiel vom Leben und Sterben des geilen Mannes. Die Hauptprotagonisten führt Castellucci geschickt in und mit der Musik, taucht das Geschehen teils in Traumsequenzen ähnelnde Szenen und schafft allein mit Licht, Stoffen oder Gazevorhängen oft pure Magie. Cindy Van Acker hat für den stummen Frauenchor aus einer Schar Salzburger Statistinnen, die Don Giovannis endlose Reihe an Verführten verkörpern, komplexe Choreografien geschaffen.

Von den Neuen überzeugt Tenor Julian Prégardien mit kleinen Abstrichen als kerniger Don Ottavio, Mezzosopranistin Anna El-Khashem als zarte Zerlina, Bass Ruben Drole als (ver-)zweifelnder Masetto, sein Stimmkollege Dmitry Ulyanov als kräftiger Komtur und Bariton Kyle Ketelsen als Leporello. Der italienische Bariton Davide Luciano ist in diesem kaleidoskopischen Bilderreigen wie schon zuletzt ein sehr guter, aber nicht großer und etwas zu wenig charismatischer Don Giovanni, der seinen Erotomanenweg direttissima geht, notfalls über Leichen, am Ende in den Abgrund. Federica Lombardi als Furie Donna Elvira, die Don Giovanni ständig dazwischenfunkt, kann – anders als 2021 – vollends überzeugen. Übertroffen werden alle wie schon in der Erstinszenierung nur von der Russin Nadezhda Pavlova, die mit diamantenem Sopran als engelsgleiche Donna Anna brilliert und erneut den größten Applaus nach dem vierstündigen Abend einheimst.

Im Graben sorgt einmal mehr Teodor Currentzis für eine farbenreiche Lesart von Mozarts Partitur mit hoher dynamischer Spannweite und extremen Tempi in alle Richtungen. Seine Zeichengebungen gleichen fast Beschwörungsformeln. Das Utopia Orchestra weiß der bezwingenden Gestaltungskraft des 52-jährigen griechisch-russischen Dirigenten kantig bis klangschön zu folgen, auch der Utopia Choir ist (verstärkt von Herren des Bachchor Salzburg) sehr präsent.

Selbst wenn auch die Neu-Inszenierung Romeo Castelluccis das Zeug zur Polarisierung hat, wie vereinzelte Buhs zwischen den Standing Ovations bei der Premiere bewiesen: Die Salzburger Festspiele haben mit diesem „Don Giovanni“ zu Recht ein weiteres Mal den Garantieschein für ein Musiktheaterereignis ausgestellt. Noch fünfmal einzulösen.