Nun geht sie also los, die langersehnte weibliche Form des Geldes, die Euro. Und da im Fußball alles möglich ist, keimt sogar in Österreich Hoffnung auf. Das Team hat sich souverän qualifiziert und mit einer Serie von Testspielsiegen überzeugt. Früher hätte man auf Großes spekuliert, diesmal bremst gesunde Skepsis. Die Auslosung ist hart, mit Alaba und Xaver Schlager fehlen gleich zwei Leistungsträger, oder, wie es neuschirchdeutsch heißt: Unterschiedsspieler – Spieler, die ein Match entscheiden können, weil sie den Unterschied ausmachen.
Marko Arnautović wäre so einer, aber im österreichischen Pressing, das den Gegner wie eine Flotte Lotte in die Mangel nimmt, wirkt er oft wie ein Fremdkörper, der mehr im Weg steht als beschleunigt, auch wenn er Verteidiger bindet wie Fliegenleim.
Sabitzer? Der Mann mit dem Styling eines mehrtägigen Rave-Festival-Besuchers wirkt gelegentlich träge wie eine Ente, die sich an Schnecken überfressen hat, aber das täuscht. Der CL-Finalist ist gereift, zerreißt sich, besitzt ein exzellentes Spielverständnis, enorme Übersicht und ist jederzeit in der Lage, gerissen in das Loch zu passen, welches er auftut.
Das Mittelfeld ist das Filetstück unserer Mannschaft. Früher unerträgliches Herumgeschiebe, mittlerweile unermüdliches Getriebe mit Baumgartner, einer Art österreichischem Griezmann, Grillitsch, dem Alpen-Busquets, der an den Grashüpfer aus der Biene Maja erinnert, Romano Schmid, welcher mit seinem Bärtchen gut in die WM-Mannschaft der Deutschen passen täte, aber in jene von 1990, und die war nicht schlecht, dazu ein Hans Dampf in allen Gassen: Laimer, der alles zusammenhält. Inmitten all dieser Mannsbilder ein femininer Milchbart, den Leonardo da Vinci als Lieblingsjünger Jesu dargestellt hätte: Patrick Wimmer.
Das österreichische Team ist kein letztes Abendmahl, trotzdem steht hinten eine Kirche aus Beton auf Estrich, die angeführt von dem immer angerührt wirkenden Hohepriester Danso samt seinen humorlosen Ministranten Wöber, Mwene, Leiner, Posch allen Angreifern eine Messe liest. Obwohl diese Verteidiger fest an sich glauben, kann man nie ganz sicher sein, ob nicht plötzlich einer von seinem Dogma abfällt und in einem Anfall übertriebener Barmherzigkeit ohne Not den Ball herschenkt.
Jedenfalls bewachen sie eine Apsis, in deren Kasten ein grinsender Dreikäsehoch steht, der etwas zu klein ist, um göttliche Weltklasse zu verkörpern. Oder kommt das auf den Blickwinkel und den Käse an? Dann gibt es noch den Sturm. Frankreich hat Mbappé, Polen Lewandowski, Holland Gakpo und Österreich? Gregoritsch! Der schaut ein bisschen aus wie Alfalfa von den kleinen Strolchen, spielt auch lausbübisch und gewitzt, aber während die drei anderen aus einer Halbchance zwei Tore machen, braucht unser Michael oft zwei Chancen für ein halbes Tor.
Das Team ist so gut wie lange nicht, aber Wunderteam? Etwas fehlt auf jeden Fall, ein Name. Portugiesen heißen Seleção. Karierte nennen sich die Kroaten, Orangen die Holländer, Squadra Azzurra die Italiener, was so viel bedeutet wie Les Bleus bei den Franzosen, bei den Griechen spielt ein To Piratiko, Piratenschiff, und sogar die Schweizer haben eine Nati. Nur wir Österreicher heißen nichts.
Mein Schriftstellerkollege Egyd Gstättner glaubte dereinst, dass Nati ein Mädchenname sei, eine Abkürzung für Natascha oder Natalie, und schlug vor, auch das österreichische Team mit einem weiblichen Vornamen zu belegen. Mir gefiele Dorli, weil Dolores Schmerz bedeutet, auch Claudia, die Hinkende, wäre manchmal angebracht. Oder Rosi, das kürzt Rot-Weiß-Rot ab und besänftigt die Volkswut, wenn die Rosl verwelkt. Sollte sie gewinnen, könnte man auf den Rängen lauthals „Rosamunde, schenk mir dein Herz und dein Ja, Rosamunde …“ anstimmen.
Österreichs Fußball ist eine lange Leidensgeschichte. Meist konnte man gar nicht so viel saufen, wie die Spiele ernüchternd waren. Jedes Mal sind wir voller Enthusiasmus zu einem Großereignis gefahren und dann als Erstes zurückgekommen, nicht als Erster. Wie euphorisch waren wir 2016, bis nach wenigen Minuten der damals unersetzliche Zlatko Junuzović verletzt vom Platz musste und aus der Koller-Euphorie ein Euro-Koller wurde.
Was ist diesmal zu erwarten? Nichts, und das ist das Beste, was passieren konnte. Der Star (Unterschiedsspieler) der Mannschaft ist der Trainer. Wer hätte gedacht, dass Bayern München Millionen für den Coach der österreichischen Nationalmannschaft auslegen will, der aber absagt, um die Rosl oder Flotte Lotte zu trainieren?
Doch Rangnick hat vorne und hinten Baustellen, gerade vorne und hinten. Dazwischen gibt es eine interessante Mischung aus Wunschschwiegersöhnen (Lienhart, Seiwald), Almöhis (Laimer) und Individualanarchisten (Arnautović). Aber vorne und hinten? Entrup gut, alles gut? Doch kommt der heimische Füllkrug an Weltklasseverteidigern vorbei zum Brunnen? Weimann ist leider oft ein Buhmann-Chancentod. Vorne fehlt ein Kontertürmer und hinten eine Tormannwand. Oder macht das nichts, weil das Mittelfeld alle Gegner püriert?
Als österreichischer Fußballfan lernt man früh, mit Niederlagen umzugehen. Der Fußball ist ein guter Lehrmeister in Unterwürfigkeit, Demut und Minderwertigkeit. Man büßt alle Sünden ab, sogar die noch nicht begangenen. Ständig wird einem die Kleinheit und Unzulänglichkeit gezeigt. Der Fußball sagt, dass früher alles besser war, es gut sein könnte, aber die Gegenwart nur Hoffnung weckt und dann enttäuscht. Wir haben uns noch vor jedem Turnier als Geheimfavorit gefühlt, um jedes Mal nur den ersten Teil des Wortes erfüllt zu sehen.
Aber haben wir überhaupt gelernt zu siegen? Stellen Sie sich vor, wir werden Europameister? Unsere Hättiwaritäti-Raunzer-Mentalität wäre in Gefahr. Österreich ist ein Land, in dem keiner einem anderen etwas gönnt, wenigstens nichts Positives. Entweder ist man neidig oder man nimmt einen Erfolg nicht ernst. In Österreich ist das Nichternstnehmen explizit. Immer hat man das Gefühl, das Gesagte wäre gar nicht so gemeint.
Der Österreicher misstraut allem, auch sich selbst. Weil das Misstrauen gegen die Vernunft so stark ist, legt er großen Wert auf das Gefühl. Das drückt sich in der Kochkunst aus, in der Liebe zum Theater, zur Musik, zur Kunst und in der Leidensfähigkeit. Theaterleute, Bischöfe, Köche und Pathologen bilden hier die Prominenz. Wir ergehen uns lieber im Konjunktiv, als wirklich an einen Sieg zu glauben. Ein Europameister Österreich hätte den Charme einer Gesundenuntersuchung. Mit dieser tief verwurzelten Mentalität hat Ralf Rangnick mehr zu kämpfen als mit allem anderen. Aber wenn es einer schafft, den Österreichern das Österreichische auszutreiben, dann er. Wir können also nur gewinnen, wenn wir uns selbst verleugnen. Aber ist das überhaupt erstrebenswert? Einen Versuch wäre es wert. Noch ist unser potenzielles Wunderteam eine Wundertüte. Die EM wird zeigen, was wirklich drinnen ist. Ich glaube alles.
Franzobl