Auf dem Empfang und Vortragsabend für Mandanten einer Anwaltskanzlei wurden auch Snacks angeboten. Fragt der männliche Mandant die sehr attraktive 25-jährige Rechtsreferendarin mit Doktortitel: „Hier soll es irgendwo Häppchen geben. Sind Sie eins davon?“ Diese Szene schildert Annette Oschmann in ihrem soeben erschienen Buch „Mädchen stärken“. Dass die junge Frau mitlächelte, statt den Mann zurechtzuweisen, wertet sie als schweren Fehler.
Die Rechtsanwältin, die seit mehreren Jahren auch als Mediatorin und Coachin arbeitet, erlebt immer wieder, dass unsere Gesellschaft Mädchen und Frauen auch nach Jahrzehnten der Emanzipation in bestimmte Rollen drängt und in Ecken zwängt. Viele Mädchen und Frauen würden das allerdings noch immer zulassen, „weil sie so zugänglich und anpassungsfähig sind, gerade weil das ,Du‘ und das ,Wir‘ sowie das Erspüren der Bedürfnisse anderer für viele Mädchen und Frauen einen so hohen Stellenwert hat“, erklärt Oschmann im Interview.
Unsere Gesellschaft, die so stark auf Leistung und Performance ausgerichtet sei, bringe aber gerade „die leistungsstarken Mädchen und Frauen dazu, sich dem zu entziehen.“ All diese Beobachtungen aus ihrer Coaching-Tätigkeit habe die Mutter von drei Söhnen im Alter von 15, 19 und 21 Jahren zum Schreiben dieses Buchs veranlasst, denn Mädchen müssten auch heute noch gestärkt werden. Sie erlebe bei ihren Klientinnen immer wieder Muster, die sich über Generationen halten, die Frauen klein machen und klein halten würden. Es sei noch immer notwendig, Mädchen in ihrer Individualität zu fördern, sie in ihrem Selbstwert zu stärken und ihnen Mut zuzusprechen: „Damit kann gar nicht früh genug begonnen werden.“
„Ich darf so sein, wie ich bin“
Attraktivität war für Frauen immer wichtig, für die heute heranwachsenden Mädchen ist es aber das alles überragende Top-Thema: „Egal, wie intelligent, wie sportlich, wie kreativ oder wie kommunikativ sie sind, mit dem eigenen Aussehen steht und fällt alles“, sagt Oschmann. Hier gehe es darum, die Selbstakzeptanz zu stärken. „Ich darf so sein, wie ich bin. Ich bin genau richtig“, das seien Sätze, die vielen Mädchen und Frauen nur schwer über die Lippen kommen. „Mädchen haben andauernd das Gefühl, sie müssten es anderen recht machen, anderen gefallen“, erklärt die Expertin.
Ihr Tipp: „Es gibt drei Prinzipien, die sich positiv auf die Entwicklung von Mädchen auswirken: Erstens: Vertrauen und Kontrolle. Zweitens: das rechte Maß. Drittens: Vorbild sein.“ Mit dem rechten Maß meint Oschmann, „nicht zu viel und nicht zu wenig behüten: Kinder brauchen Wurzeln, aber sie brauchen auch Flügel.“ Kinder benötigen das Gefühl von Stabilität, aber auch genügend Raum, um sich entwickeln zu können. Das lernen sie im Übrigen nicht nur im Elternhaus, auch Großeltern, Kindergarten, Schule und der Freundeskreis würden dazu beitragen. Hier möchte die Coachin auch den Druck von Eltern und insbesondere von Müttern nehmen: „Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.“
„Mädchen müssen liebevoll gefördert werden“, sagt Oschmann. Man müsse ihnen ein Gespür für ihre eigenen Grenzen vermitteln: Was will ich? Was will ich nicht? Oschmann sieht immer wieder, dass just empathische und hochsensible Frauen Probleme hätten, einen Grenzzaun um sich zu ziehen, aber genau den brauche es, „um sie widerstandsfähig zu machen gegen den Wind, der Frauen immer noch entgegenschlägt.“ Ein anderer Rat: „Sie sind als Mutter das erste Rollenvorbild für Ihre Tochter. Nutzen Sie das!“ Und es gehe dabei niemals darum, perfekt zu sein.