Er war in der Kurve einfach zu schnell. Sein Leben war von da an ein anderes. Er sprach fortan von seinen zwei Leben. Dem davor und dem danach. Seit seinem 23. Lebensjahr ist Andreas Pröve querschnittsgelähmt, oder wie es medizinisch heißt: „Komplette Paraplegie bei TH8“, kompletter Verlust von Sensibilität und Beweglichkeit in den unteren Extremitäten. Acht Monate verbrachte er nach dem Motorradunfall allein im Krankenhaus. Dann kam noch die Reha dazu. Keine drei Jahre später unternahm er bereits seine erste große Reise im Rollstuhl durch Indien und Sri Lanka. Alleine. „Ich liebe es, allein unterwegs zu sein“, erzählt uns der mittlerweile 66-Jährige im Gespräch. Seine Frau Angelika sei nicht immer glücklich darüber gewesen, vor allem als seine Kinder Johanna und Luca, mittlerweile 27 und 30, noch klein waren.
Doch er braucht es bis heute, auf Achse zu sein, braucht die Herausforderung, braucht auch diese Art von Spiritualität, die er durch das Alleinsein in und mit der Natur erlebe. „Reisen ist jedes Mal ein Grenzgang für mich. Es gibt mir Kraft und Bestätigung“, erklärt er uns. Ein Satz von Robert Louis Stevenson, dem Autor von „Die Schatzinsel“ sei ihm bald nach dem Unfall untergekommen und gehe ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf: „Es kommt im Leben nicht darauf an, ein gutes Blatt in der Hand zu haben, sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.“ Den Satz verinnerlichte Pröve. „Es gibt immer wieder Momente im Leben, wenn man nachts aufwacht und man nicht mehr einschlafen kann und man ins Grübeln kommt und man mit seinem Schicksal hadert“, erzählt Pröve, „aber dann sage ich mir, dass das einfach nichts bringt. Da mache ich mich lieber auf und davon.“ Beim Reisen müsse man zwangsläufig nach vorne schauen.
Der gelernte Tischler aus Celle, dem südlichen Tor zur Lüneburger Heide, folgte dem Ganges von Kalkutta bis zur Quelle. Das letzte Stück im Himalaya trugen ihn Sherpas über tiefe Schluchten und riskante Klettersteige. Denn manchmal kam er mit seinem Rollstuhl allein nicht mehr weiter. Als erster Mensch im Rollstuhl folgte er auch dem Lauf des Mekong, dieser Lebensader Südostasiens, vom Mündungsdelta in Vietnam bis zur Quelle im tibetischen Hochland. 5700 Kilometer war Pröve dafür mit seinem „Rolli“ unterwegs. Er folgte dem Jangtsekiang, von der Mündung in Shanghai am Gelben Meer bis zum Himalaya. Immer auch Eremit unter unzähligen Menschen. „Als Reisender unter Milliarden Menschen, wie etwa in Indien, fühlt man sich zwischendurch ganz schön allein“, erzählt er lachend. Aber er habe auch unzählige unglaublich bereichernde Begegnungen mit allen möglichen Menschen gemacht. Nicht ganz einfach sei es ihm gefallen, um Hilfe zu bitten. „Das habe ich erst lernen müssen“, gibt er zu. Um sich in der Sprache der jeweiligen Region ausdrücken zu können, lernte er die wichtigsten Phrasen wie „Können Sie mich da bitte hinauftragen“ in den jeweiligen Landessprachen ein. Pröve hat 80 Kilo, sein Rolli 20, da mussten schon mehrere zusammengreifen.
Nach der letzten China-Reise, dem langen Flug und mit dem schlechten Gewissen über seinen gewaltigen ökologischen Fußabdruck entschloss sich Pröve, nicht mehr in ein Flugzeug zu steigen. Das war 2019. Dann kam ohnehin die Pandemie. Letztes Jahr machte er sich aber wieder auf den Weg. Er startete vor seinem Haus in der Lüneburger Heide und kam nach sechs Wochen in Istanbul an: Diese Reise, 5500 Kilometer hin und retour, hatte er allein mit dem Rollstuhl geschafft, und „zwischendurch musste ich natürlich auf Fährschiffe“, erzählt der Weltenbummler. Für ein Buch, einen Film, oder einen Vortrag darüber sei das aber noch zu wenig Stoff, sagt Pröve. Er arbeite aber an weiteren Stationen, die er ausschließlich mit seinem Rollstuhl absolvieren will. Dazwischen hält er Vorträge, wie heute beim Abenteuerfestival in Wien. In der Vorwoche gastierte er mit „40 Jahre auf Achse“ in Freiburg. „Da waren 1500 Leute im Saal. Am Ende gab es Standing Ovations für mich. Das ging runter wie Butter“, erzählt er freudig und lacht. Er empfinde es als Riesenglück, dass er als Reisender und Schreibender seinen Unterhalt verdienen kann. „Ich kenne so viele, die davon erzählen, was sie alles machen wollen, wenn sie erst einmal in Pension sind“, schildert der 66-Jährige. Ein Riesenfehler: „Träume darf man nicht aufschieben. Man muss sie sich erfüllen.“ Der nächste Traum des Ruhelosen: „Vielleicht Griechenland und die Türkei.“