Skeptisch schaut der ältere Herr auf die junge Chinesin, die gerade über einen Zaun klettert und sich vor dem Eingang eines alten Holzhauses fotografieren lässt: "Da darf sie eigentlich nicht hin, das ist privat", sagt er leise. Seit 1943 lebt der bald 80-Jährige in Hallstatt. Doch seit einigen Jahren erkennt er seinen Ort oft nicht mehr wieder.
Massen von Touristen drängen sich auf der Seestraße, wedeln mit Selfie-Sticks vor den Aussichtspunkten oder durchforsten Souvenirläden voller Plüschtiere und Glaskugeln. Etwa eine Million Menschen besuchen Hallstatt jedes Jahr. Es ist eine Touristenflut, die täglich über den 780-Seelen-Ort hereinbricht. Das kleine Hallstatt steht mittlerweile für "Overtourism": ein Sammelbegriff für Probleme, die an extrem stark besuchten Touristenzielen entstehen. Allein 19.344 Reisebusse fuhren im Vorjahr nach Hallstatt. Das sind 53 Busse pro Tag. Dazu kommen jene Touristen, die mit Auto, Zug oder Schiff anreisen.
Beim Lokalaugenschein im tief winterlichen Hallstatt merkt man, warum sie kommen: ein Kleinod, eingerahmt von einer imposanten Berglandschaft – und zu Recht Unesco-Weltkulturerbe. So ist die winzige, kühn an den Hang drapierte Gemeinde in den vergangenen Jahren zu einem "Global Player" im Tourismus geworden. Unaufhörlich werden Besucher in die einst durch die Saline zu Wohlstand gekommene Gegend gekarrt. Die ehemals ruhigen Monate rund um den Jahreswechsel gibt es heute nicht mehr.
Tausende Reisebusse
Der bei Weitem überwiegende Teil der Touristen kommt aus Asien in den schon geografisch beengt wirkenden Ort. Vielen Einheimischen wurde(n) es zu viel(e). Nun konnten sich Politik und Bevölkerung auf eine wichtige Maßnahme verständigen: Mit limitierten Kapazitäten für eintreffende Reisebusse will man die Situation in den Griff bekommen – über "Slots", wie es sie im Flugverkehr gibt. Ab Herbst werden sich Reiseunternehmen online Zufahrtsberechtigungen kaufen müssen. Wenn das Limit erreicht ist, ist Schluss. Das System, das in abgewandelter Form in der Stadt Salzburg 2018 eingeführt wurde und für das Hallstatt namhafte Verkehrsplaner engagierte, wird getestet. Eine Reduktion auf 13.000 Busse wäre schon eine spürbare Erleichterung, so der Tenor – im Jahr 2014 waren es freilich noch unter 8000, verraten die Zahlen. Den Andrang merkt man schon auf den ersten Metern: Lange Karawanen von Besuchern aus China, Südkorea, Taiwan, Japan und anderen asiatischen Ländern ziehen durch die schmale Seestraße, alle auf der Suche nach dem besten "Spot" für das beste Foto.
Folklore to go
Der Blick auf die Szenerie findet vor allem durch die Linse oder über das Display statt. Selfies für alle. Allein. Zu zweit. In Grüppchen. Besonders begehrt sind Fotos von einer "Skywalk Welterbeblick" genannten Stelle aus. Bekäme man für jedes Bild einen Euro, wäre man bald reich. Ein weiter Weg für einen Ort, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur per Schiff oder über schmale Saumpfade erreicht werden konnte. Man kommt an Ständen mit Souvenirs vorbei. Vieles von dem, was angeboten wird, wurde wohl in China hergestellt und nach Hallstatt gebracht, um an asiatische Touristen verkauft zu werden. Das ist so global wie paradox. Auch ein Dirndl(kleid)-Verleih offeriert seine Dienste: "Leih Dir ein Original für Deine Urlaubsfotos oder für ein Fest." Folklore to go, sozusagen.
Einer, der der Bevölkerung ihren Puls fühlt und selbst seit vielen Jahren im Ort lebt, ist Friedrich Idam: Er nennt sich selbst "Hallstätter mit Migrationshintergrund", stammt er doch ursprünglich aus Braunau am Inn. In seinen frühen Jahren war er Totengräber im geschichtsträchtigen Ort, bemalte kunstvoll etliche der 1200 im berühmten Beinhaus gelagerten Schädel verstorbener Hallstätter. Heute lehrt er in der örtlichen Höheren Technischen Bundeslehranstalt mit 430 Schülern. Und nicht zuletzt engagiert er sich bei der Bürgerliste Hallstatt, die 2015 aus dem Stand auf 27,8 Prozent und vier Mandate kam und hinter der SPÖ von Bürgermeister Alexander Scheutz zweitgereiht ist.
Fluch und Segen
Dass Hallstatt 1997 in das Weltkulturerbe aufgenommen wurde, ist für Idam Fluch und Segen zugleich: "Das ist einer der Gründe, warum nun die Massen kommen. Wir vernetzen uns niederschwellig mit anderen Weltkulturerbe-Gemeinden. In der Wachau etwa. Selbst viele Hoteliers sagen: 'Diese Form des Overtourism macht den richtigen Tourismus kaputt.'" Der Fall Hallstatt steht symptomatisch für Probleme, wie sie auch Städte wie Venedig, Amsterdam oder Barcelona kennen.
Salzburg
Venedig
Amsterdam
Island
"Es gibt ja kein Menschenrecht auf Individualtourismus", mahnt Idam, erkennt dabei aber an, dass Bürger und Gemeindekassen finanziell von den Gästen profitieren. "Wir spielen mittlerweile in einer Weltliga mit", sagt er nicht ohne Anflüge von Stolz. Wichtig sei aber auch, dass die Einheimischen gut und in Würde leben können. "Geht man als Hiesiger durch den Ort, kennt man oft niemanden mehr", sagt Idam. Die Idylle leidet unter den Massen: "Wie Hans Magnus Enzensberger sagt: 'Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet.'" Idam plädiert für radikale Lösungen: "Mein Standpunkt ist: gar keine Busse mehr. Dafür nur sehr wenige Touristen, die ein hohes Eintrittsgeld zahlen müssen." Der Lehrer weiß, dass solche Ideen auch unter den Hallstättern umstritten sind. Schließlich haben die Touristen die Gemeinde wertvoller gemacht. Vor einigen Jahren galt Hallstatt als sterbender Ort.
Tourismus bringt Geld
"Der Tourismus bringt schon Geld: Mein Enkel hat deshalb jetzt auch einen Job auf der Gemeinde bekommen", erzählt jener ältere Hallstätter, der den asiatischen Gästen sonst eher stirnrunzelnd begegnet. "Einige Junge kommen wieder zurück", bestätigt auch Bürgermeister Scheutz. Ziehen Hallstätter dennoch weg, können sie für ihre Häuser Summen erzielen, die sie am Immobilienmarkt vor 20 Jahren bekamen – nur jetzt in Euro statt in Schilling, erzählt Idam: "Für einige ist das natürlich verlockend zu verkaufen. Besonders jene, die Häuser von ihren Eltern geerbt haben und ohnehin nicht hier leben."
"Authentizität und Integrität" – vor allem darum gehe es bei der Bewahrung des Unesco-Weltkulturerbes, sagt Bürgermeister Scheutz. Der Massentourismus mache das natürlich schwer, aber der Bürgermeister will auch das Positive an den Besucherströmen betonen und nicht in einen Jammerchor einstimmen, streicht er hervor.
Bei einer kurzen Verschnaufpause in einem kleinen Lokal mitten im Ort ist man vor allem von Pizza (ab 12,80 Euro) und Gulaschsuppe (zünftige 8,30 Euro) verzehrenden Asiaten umgeben. Viele betrachten und wischen auch während des Essens gebannt ihre Smartphones, wohl um die unzähligen, eben gemachten Bilder anzuschauen und in den sogenannten sozialen Kanälen zu posten. ja, Hallstatt, ist "instagrammable".
"Wir können froh sein"
"In den vergangenen Jahren hatten wir eine massive Umsatzsteigerung. Die Asiaten sind sehr gute Kunden", erzählt Gastronom Markus Derbl, der mehrere Betriebe in Hallstatt besitzt. Sorgen machen ihm nur die "Ein-bis-zwei-Stunden-Touristen", die Hallstatt vermehrt ansteuern: "Die steigen aus dem Bus aus, laufen durch den Ort und konsumieren nichts." Natürlich müsse dieser Ansturm in geregelte Bahnen gelenkt werden, findet auch der Wirt: "Aber wir können trotzdem froh sein. Wenn die Wirtschaft in Asien einbricht, sind die Menschen schneller weg, als wir glauben."
Danach sieht es derzeit freilich nicht aus. Die Chinesen sind sogar derart große Hallstatt-Fans, dass 2012 in der südchinesischen Stadt Boluo ein Nachbau inklusive neu angelegten Sees eröffnet wurde. Bürgermeister Scheutz hat den Hallstatt-Klon bereits besucht. Die Frage, wie es so ist, in einer Replika seiner Heimatgemeinde zu sein, beantwortet er mit einem schiefen Grinsen: "Das war witzig. Ich bin damals gemeinsam mit einer Bläsergruppe hingereist. Wirklich sehr feierlich."
Authentisch aber natürlich nicht, doch nach Authentizität suchen die Hallstätter ja auch in ihrem Heimatdorf manchmal vergebens. Für die Einheimischen gibt es da seit einiger Zeit (wieder) einen Wochenmarkt: ein Ort der Begegnung für Nachbarn, die sich in den Besuchermassen schon lange aus den Augen verloren haben. Idam nennt es augenzwinkernd ein "Reservat" für Hallstätter: "Aber schreiben Sie lieber nicht, wo der Markt ist, sonst entdecken die Touristen den auch noch."
Sitzt man wieder im Auto und macht sich auf den Heimweg, hat man trotz allem das Gefühl, in einem besonderen Ort, der aus jeder Pore seine Geschichte verströmt, gewesen zu sein. Und nimmt den Eindruck mit, dass auch Luxusprobleme zu echten Problemen werden können.
Ja, Hallstatt hallt nach.
Thomas Golser & Thomas Macher