Hier gerinnt die Zeit. Die unterhöhlten Sassi atmen 10.000 Jahre Besiedlung. In Matera, mit Aleppo und Jericho angeblich älteste Stadt der Welt, erfährt man ein anderes Gefühl für Zeit. Man spürt dem Elend nach - und findet Reichtum vor. An Kultur. In der Grottenbasilika Chiesa Rupestre di Madonna delle Virtù gerinnt die Zeit mit Salvador Dalís surreal schmelzenden Uhren. Skulpturen in einer unterirdischen Skulptur, als Draufgabe zum offiziellen Programm der Kulturhauptstadt Europas.
„Was ich in Matera gesehen habe, ist einfach unvorstellbar.“ Mit fünf Seiten Augenzeugenbericht seiner Schwester machte der Turiner Arzt Carlo Levi, der 1935 im faschistischen Italien in die Ödnis der Basilikata verbannt worden war, in seinem Buch „Christus kam nur bis Eboli“ Matera traurig berühmt als „Schande Italiens“. Dantes Hölle gleich, mit ärmlichst vegetierenden Menschen in den Löchern der elenden Sassi, welche die Schickeria heute zum Quadratmeterpreis von 6000 Euro in Atelierwohnungen verwandelt. 1964 drehte Pier Paolo Pasoloni hier seinen Jesus-Film. 2019 setzt man Daniel Craig im 25. James-Bond-Film in Szene.
Das Elend holte Matera vor wenigen Jahren ein, mit der Krise der kleingewerblichen Sofaindustrie. Unter brutaler Preiskonkurrenz aus China mussten 500 Kleinbetriebe um Matera schließen. Die Proklamation zur Kulturhauptstadt 2014 weckte Aufbruchstimmung für Tourismus. „Von der Scham zur Erlösung“, sagte Bürgermeister Raffaello De Ruggieri unter Tränen.
Um einen von einst acht Türmen des Castelvecchio zu erhalten, hat zum Beispiel die Architektin Alina Melli in den Antica Torre di Iuso zwei Gästezimmer hineingezaubert. „Die Fenster waren einst zugemauert, weil die Herrschaft das Elend der Sassi nicht sehen wollte. Wir haben sie wieder geöffnet.“ So hat der privat Kulturreisende aus der einstigen Logis des Kommandanten der Malteser Kreuzritter Ausblick auf den Sasso Barisano und auf den um Almosen bittenden afrikanischen Flüchtling vor dem Tor des prunkvollen Doms.
Auch im Sasso Caveoso kann man sich treppauf, treppab in Historie und Kultur versteigen - von den Höhlen des Skulpturenmuseums Musma und den Felsenkirchen bis zur erhaltenen Wohnhöhle für Mensch und Tier. In der Casa Cava lohnt der virtuelle Bummel durch das in Tuffstein gegrabene Labyrinth. Ober der Erde lädt Matera mit Konzerten, Bühnen- und Kinovorstellungen sowie fünf großen Ausstellungen zum Generalmotto „Renaissance des Südens“ ein. Ars Excavandi zeigt uralte Felsenstädte der Welt wie Petra als biometrische Vorbilder künftiger nachhaltiger Siedlungsräume.
Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella würdigte Matera als „Symbol des Südens“, welches mit Kultur, die originär bewahrt Chancen und Solidarität eröffne, als ein Vorbild für Europa wirke. Premierminister Sergio Conte schmerzte, dass die Bahn es von Rom aus noch immer nicht direkt bis Matera schafft. „Aber hier ist die Zukunft“, machte er Mut.
Voll Zuversicht sprüht Mariano Luigi Schiavo, Generaldirektor der regionalen Tourismuswerbung, für die Basilikata: „Matera ist die Brücke, um in der Basilikata das wirkliche Italien zu sehen. Wir sind das verborgene grüne Herz Italiens.“ Zwischen Rist und Absatz des italienischen Stiefels gelegen, berührt die Basilikata zwei Meere, das Tyrrhenische und das Ionische. Dazwischen ist ein Drittel der Fläche der Region in zwei Nationalparks und einem Naturpark behütet.
Die Mission Materas trägt man mit zahlreichen Veranstaltungen in alle Teile der Region mit dem Projekt „Kulturhauptstadt für einen Tag“. „Jeden Tag ist ein anderer Ort der Basilikata Europas Kulturhauptstadt“, erzählt Schiavo und beginnt, leidenschaftlich von der Burgenregion zu schwärmen, die Kaiser Friedrich I. Barbarossa in Lukanien, wie die Basilikata einst hieß, hinterließ. „Die Mittelalterstadt Melfi war einst Hauptstadt seines Reiches.“ Im nahen Venosa lebte der römische Dichter Horaz, der uns bis heute im Lateinunterricht „carpe diem“ nahelegt. Wer dementsprechend den Tag genießen will, ist mit einem Ausflug nach Maratea gut beraten.
Unter Europas monumentalster Christo-Statue (21 Meter) und der hoch über dem Tyrrhenischen Meer gelegenen Stadt locken an den Gestaden einsame Sandbuchten mit weißem und mit dunklem Sand und Kies - Naturerlebnis mit kristallklarem Wasser abseits von Touristenmassen. Tourismuschef Schiavo freut sich über zweistellige Gästezuwächse.
Auch kulinarisch ist die Basilikata als Terra incognita zu enthüllen. Die Pasta genießt man als Orecchiette oder als Strascinati - als kleine oder große Ohren. Die rot leuchtenden Peperoncini aus Senise, gegrillt oder getrocknet, dürfen auch als Deko nicht fehlen. Einzigartig ist das „Cornetto Materano“. „Das gibt es nur in Matera“, erklärt Bäcker Pino Martino, der an der Piazza Sedile mit „dem besten Pan di Matera“ wirbt.
Außen rau und dunkelkrustig, innen flockig gelb und süß. Sein Geheimnis ist streng qualitätsgeregelter, doppelt gemahlener Hartweizengrieß, seine Form den Bergen des Naturparks Murgia Materana nachempfunden. Zum Eröffnungsfestakt der Kulturhauptstadt versah man extra gebackene Brote in alter Tradition per Holzstäbchen im Teig mit einer für die Familien wichtigen Zahl: 19. Das Jahr, in dem für Matera und die Basilikata eine neue Zeit beginnt.
Adolf Winkler