Unten pulsierendes, vibrierendes Treiben. Oben kontemplatives, beschauliches Dasein. Fast 600 Höhenmeter und nur 20 Minuten Fahrtzeit trennen Riva, das unverdrossen kaiserlich-königlich geprägte Epizentrum am Nordufer des Gardasees, und das Ledrotal.

Erst seit 1851 die Ponalestraße entlang an steilen Klippen das Hochtal aus seiner Isolation führte, besteht eine befestigte Verbindung nach Riva. Üppig wuchs im kargen Tal vor allem das Gras: Die an Kräutervielfalt reichen Wiesen werden mehrmals im Jahr geschnitten, das Heu wird exportiert, selbst Landwirte aus der Poebene schätzen es.

Die Ruhe als höchstes Gut

Trubel ist diesen Breiten fremd. Die unversehrte Landschaft hat sich in die Gegenwart gerettet, Tourismus ist verträglicher, authentischer als unten am Gardasee. Es gibt kaum Hotels, kleine Familienbetriebe und Ferienwohnungen dominieren. Mit den Campingplätzen direkt am See sind es dennoch bis zu 15.000 Touristen, die das gesamte Ledrotal aufnehmen kann.

Es bleibt genügend Platz, damit auch Besucher aus dem Trentino ihre Ruhezonen am Ufer finden, um ein Bad zu nehmen. Sie kommen gerne: Der Ledrosee ist warm, die Luft angenehmer als am heiß begehrten Gardasee.

Beschaulich und spektakulär: Der fast unberührte Ledrosee ist 2,2 km2 groß
Beschaulich und spektakulär: Der fast unberührte Ledrosee ist 2,2 km2 groß © Imago/Kickner (bruno kickner)

Das von Gletschern geformte Ledrotal mit seinen beschaulichen Ortschaften und Seitensträngen wie dem Val di Concei wirke „wie eine Bühne, mit den beeindruckenden Bergen als Kulisse“, erklärt unsere Wanderführerin Anna Maria. Der Monte Cadria, 2254 Meter hoch, nickt majestätisch hinunter ins Hochtal. Dass hier oben vor gut 100 Jahren blutige Kämpfe das Land entzweirissen, davon zeugt der Sentiero Austroungarico. Das Kriegsgetöse ist längst friedlicher Ruhe gewichen.

Selbst an heißen Sommertagen dominiert das Grün der Wiesen und des Mischwalds. Für die tiefblaue Note sorgt der 2,8 Kilometer lange, sanft in die Landschaft eingebettete See, dessen Ufer und Strände frei zugänglich sind. Freizeitstress heißt hier: Was tun wir heute – baden, wandern, spazieren gehen oder Rad fahren? Oder doch Kultur? Inmitten des schattigen Waldes finden sich humorvolle Kunstwerke, „Ledro Land Art“ ist einen Besuch wert, ebenso das Pfahlbaumuseum in Molina, ein dem Unesco-Welterbe würdiger Rahmen.

Das Pfahlbaumuseum in Molina
Das Pfahlbaumuseum in Molina © Gennady Kurushin/stock.adobe.c (Gennady Kurushin)

Grenzgenialer Genuss

Fernab des Massentourismus haben sich im Ledrotal liebenswürdige Kleinststrukturen erhalten, etwa die Lebensmittelkooperative Famiglia Cooperativa, die Mini-Niederlassungen in ebensolchen Orten betreibt. Die Lokalkultur ist typisch fürs Trentino; die Osteria La Torre in Pieve al Ledro, wo wir von großartigem Gewölbe umhüllt Tagliata vom Angus, Filet vom Gardasee-Fisch und hiesigen Speck mit Focaccia verspeisen, sei dringend empfohlen.

Hoch oben über Pieve lebt Anna Maria. Mit ihrem Mann und dem 23-jährigen Sohn betreibt sie das kleine Weingut Sartori. Das Ledrotal ist kein natürliches Habitat für Wein, angebaut werden widerstandsfähige Sorten wie Solaris; diese gedeihen prächtig am Südufer des Sees. Dort errichtet die tüchtige Familie einen Keller samt Verkostungsraum. Und am Steilhang von Arco unweit des Gardasees besitzt sie 1800 Olivenbäume. Die unter Mühsal zu Öl verarbeiteten Früchte sind ein grenzgenialer Genuss.

Das Ledrotal hatte das große Glück, bis 1998 von Tourismus verschont geblieben zu sein. Erst seit 25 Jahren schleusen Tunnels die Gäste unkompliziert ins Hochtal, schnurgerade werden Höhenmeter effizient überwunden. Die alte Ponalestraße, atemberaubendes Stück Verkehrsgeschichte mit epischen Ausblicken auf den Gardasee, wurde neuen Zwecken zugeführt: Wanderer und Radfahrer haben sie erobert.