Das Rifugio Don Barbera thront 2079 Meter über dem Meeresspiegel. Die Herberge ist der Endpunkt unserer Tour über die Alta Via del Sale. Obwohl es noch weiter ginge, bis zum ligurischen Meer. Ich lasse mir Schinken, Speck und Käse auf der Zunge zergehen, über mir der knallblaue Himmel, in mir die stille Zufriedenheit derer, die geschafft hat, was sie sich vorgenommen hat, begleitet von der steten Sorge, am eigenen Anspruch zu scheitern.
Rund 20 Kilometer weiter unten und drei Stunden früher nimmt das Abenteuer seinen Ausgang: In Limone Piemonte geht's los, rund 120 Kilometer südlich von Turin. Limone liegt auf rund 1000 Metern Seehöhe und ist auch mit der Bahn erreichbar. Das Taxi bringt uns noch 800 Meter höher, zum Startpunkt der alten Bergstraße. Dienstags und donnerstags ist sie ausschließlich Radfahrern und Wanderern vorbehalten. Den Rest der Woche dürfen sich dort auch offroad-begeisterte Auto- und Motorradfahrer tummeln.
Von hier aus geht's bergwärts mit dem Rad. Francesco ist mein Guide für den Tag. Kurve um Kurve schrauben wir uns mit dem Mountainbike hoch. Abwechselnd bergauf und auch bergab, auf breiten Wegen mit sanften Übergängen. Nur zwischendurch das eine oder andere steilere Stück, wo es mich, die ich sonst nur ein Treckingbike fahre, "zaubert".
Die Ligurische Grenzkammstraße
Es sind E-Bikes, mit denen wir uns unterm Strich 300 Meter nach oben strampeln. Immer wieder begegnen wir auch Radlern, die ohne E auskommen. Die Verbreitung der motorisierten Variante hat dazu beigetragen, dass der Berggenuss auch Hobbysportlerinnen offensteht, wie mir. Körperliche Fitness vorausgesetzt.
Francesco hat ein Auge auf das zuträgliche Tempo der Gruppe. Die Pausen nützt er, um uns seine Welt zu öffnen. Es sind die maritimen Berge, über die wir kommen, und die ligurischen Alpen, zu denen wir fahren. Ein Meer von Grün. Die historische Bergstraße, dereinst für militärische Zwecke genutzt (gleich nach dem Start besichtigen wir auch noch eine alte Festung mit Traumausblick in Richtung der französischen Täler), verbindet zwei Naturparadiese, die sich fundamental voneinander unterscheiden:
Angrenzend an die französischen Alpen bildet Granit den Untergrund, der Blumen und Sträucher in üppiger Pracht erblühen lässt. Die ligurischen Alpen Italiens, in Richtung Meer, bestehen aus wasserdurchlässigem Kalk. Dank des vielen Regens im heurigen Frühjahr blüht es zurzeit auch in der "Carsene", doch im Herbst breitet sich hier eine mondartige Landschaft aus.
Malerisches Cuneo
Vom Rifugio geht es die 20 Kilometer wieder zurück. Zum Schluss umhüllt uns plötzlich dichter Nebel – der rasche Wechsel erinnert daran, dass wir im hochalpinen Gelände unterwegs sind. Den Abend verbringen wir in Cuneo, der Hauptstadt dieser Region, malerisch auf einem Hügel gelegen, zwischen zwei Flüssen, Gessa und Sture. Es lohnt sich ein Stopp, um diesen Naturpark in der Ebene zu erkunden, oder den hübschen mittelalterlichen Stadtkern mit seinen Bars und Restaurants.
Wir reisen weiter nach Pomaretto im Chisonetal, zwei Autostunden weiter nördlich und nur wenige Kilometer vom bekannten Wintersportort Sestriere, 100 Kilometer westlich von Turin, entfernt. Ein Adrenalinschock am späten Vormittag – der Flug mit der Zipline, der "Volo del Dahu": Mit mehr als 100 km/h geht es die 800 Meter über den Graben ins Tal – ein kurzer Moment der Nervosität, dann Genuss! Danach Fenestrelle – größte Festungsanlage Europas aus dem 18. Jahrhundert, errichtet in einer Region, in der Italien und Frankreich einander so manches Gefecht lieferten, und, so heißt es, nach der Chinesischen Mauer das nächstgrößte Mauerwerk. Über 4000 Stufen führt die gedeckte Treppe von der unteren über die mittlere bis zur oberen Festung nach oben. Es hat 30 Grad, und ich genieße den Umstand, dass uns nur Ausblicke gewährt werden, wir aber nicht die Treppe selbst nach oben klettern müssen …
Die Assietta-Kammstraße
Die Via dell’Assietta, die Assietta-Kammstraße, steuern wir tags darauf an. In Sestriere fassen wir wieder Leihräder aus. Das erste Teilstück führt diesmal steil nach oben. Hier ist Guido unser Begleiter. Treu hält er sich an meiner Seite, wachsam kontrolliert er, ob sich's ausgeht mit Muskeln und Luft. Weite, geschwungene Schotterwege, kaum gröbere Steine, die sich in den Weg legen. Ein Traumpanorama nach dem anderen, bis zur Herberge am See, ganz oben, auf 2500 Metern Seehöhe. Tausend Höhenmeter auf- und 2000 Meter abwärts bewältigen wir an diesem Tag, gut 40 Kilometer insgesamt. Keine Kiefern, sondern Lärchen säumen hier den Weg und Guido weiß zu berichten, dass das Farbenspiel im Herbst atemberaubend ist. Wir starten in Sestriere und landen bei unserem Hotel in Fenestrelle.
Rast und Genuss in Turin
Über das Susatal führt die Autobahn auf schnellem Weg zurück nach Turin. 20 Kilometer schattige Arkaden führen von Palazzo zu Palazzo, von Piazza zu Piazza, zu Zeugnissen der Vergangenheit wie dem (nur selten im Original zu besichtigenden) Grabtuch im Dom sowie zu Genusstempeln aller Art. Mit köstlichen Schokopralinen von Gobino als Mitbringsel und traumhaften Bildern im Kopf als Erinnerung für mich selbst sag' ich leise Ciao.
Die Reise wurde unterstützt von:
Visit Piemonte/Tourismusamt der Region Piemonte
Claudia Gigler