Am frühen Morgen ist die beste Zeit, Vicenza zu erkunden. Dann ist es in der autofreien Altstadt noch still und die Straßen, die hier nicht Via, sondern Contrà (Abkürzung für Contrada, kleine Straße) heißen, leer gefegt. Vor 9.30 Uhr, eher 10 Uhr, rührt sich hier so gut wie nichts.
Frauen in Stöckelschuhen schrubben das Pflaster blitzblank für den anbrechenden Tag. Omas mit Weidekörbchen auf dem Lenker radeln quer über die lang gestreckte Piazza dei Signori, dem salotto, Wohnzimmer der Einheimischen, wo zu Füßen zweier Säulen – eine mit dem geflügelten Markuslöwen, die andere mit dem Erlöser gekrönt – Signori in akkurat gebügelten Hemden sitzen und in der rosafarbenen Gazzetta blättern.
Weder Souvenirstände noch Touristenfallen stören die Würde des Platzes. Wie kann man hier durchatmen, sich ungestört satt sehen an der imposanten Basilica Palladiana – keine Kirche, sondern ein Stadtpalast – deren lichtgrünes Kupferdach einem umgedrehten Schiffsrumpf gleicht oder an dem leicht schief stehenden Torre di Piazza aus dem 12. Jahrhundert, der mit seinen 80 Metern den Himmel zu berühren scheint.
Mauerblümchen zwischen Venedig und Verona
Trotz der einmaligen Kulisse führt Vicenza ein Mauerblümchendasein zwischen den prominenten, jeweils rund eine Autostunde entfernten Touristenmagneten Venedig und Verona. Zu Unrecht! Die 112.000-Einwohner-Stadt ist mit Palästen des berühmten Renaissancearchitekten Andrea Palladio (1508–1580) buchstäblich gepflastert und versprüht dazu den ganzen Charme italienischer Lebensfreude.
Im Gewirr der Altstadtgassen gelangt man zum stadtbekannten Feinkostgeschäft Ceppo, wo Prosciuttokeulen von der Decke baumeln und sich die Regale unter regionalen Spezialitäten wie Sopressa vicentina (drei bis vier Monate gereifte Salami, nur mit Salz und Pfeffer gewürzt), Asiago-Käse aus der gleichnamigen Hochebene oder Mostarda vicentina (eingelegte Senffrüchte) biegen.
Von Katzen und Stockfischen
„Vicentini magnagati! (übersetzt: Vicentini, Katzenfresser!) nennen Italiener die Einwohner Vicenzas“, erzählt uns Ivana Boscolo, die den Laden in zweiter Generation führt. Der Spottname aus dem venezianischen Dialekt gehe der Legende nach auf das 17. Jahrhundert zurück, als Vicenza zu Venedig gehörte. Um eine Rattenplage zu bekämpfen und damit die Überträger der Pest loszuwerden, schickten die Venezianer fünfhundert Katzen nach Vicenza. Da die Stadt die Katzen nie wie verlangt an Venedig zurückgab, kam das Gerücht „Vicentini magnagati“ auf.
„Dabei ist Baccalà alla Vicentina, Stockfisch mit Polenta, unsere Lieblingsspeise“, sagt Ivana. „Das Geschäft mit dem getrockneten Fisch ist jahrhundertealt. Wir importieren den Stockfisch von den Lofoten in Norwegens Norden, wo ihn Kapitän Pietro Querini 1432 während einer Forschungsreise entdeckte und nach Venetien brachte.“ Es gibt unzählige Arten, Stockfisch zuzubereiten.
Bühne unter gemaltem Himmel
An einem weiteren Meisterwerk Palladios, nur einen Katzensprung entfernt, läuft man fast vorbei, es versteckt sich hinter einer unscheinbaren Backsteinfassade in einem begrünten Innenhof: Das von einem römischen Amphitheater inspirierte Teatro Olimpico (1580), dessen Fertigstellung Palladio nicht mehr erlebte. Er starb fünf Jahre vor der Eröffnung (1585) im Alter von 72 Jahren, Sohn Silla vollendete das Werk. Berühmt ist das erste überdachte Theater Europas für das monumentale Bühnenbild mit Triumphbogen, das der venezianische Architekt Vicenzo Scamozzi schuf.
Beate Giacovelli