"Geh über den Karst und höre! Der Stein wird dir seine Geschichte erzählen“, so sprach der slowenische Poet Srečko Kosovel dem steinharten Charakteristikum seiner Heimat bereits in den 1920er-Jahren eine besondere Tugend zu. Der Triestiner Autor Scipio Slataper vernahm im Karst sogar den „Schrei der Steine“.
Neben dem wilden Fallwind Bora und einer unterirdischen Welt voller verborgener Flussläufe wie Tausender Höhlen ist es vor allem das Reich an Gestein, das die teils archaisch anmutende Landschaft des Karsts ab dem italienisch-slowenischen Hinterland der Bucht von Triest zauberhaft prägt.
Der Legende nach geht das auf das Konto des Erzengels Gabriel. In seiner göttlichen Mission, einen überzähligen Haufen aus einer Ecke der Welt an die Adria zu fliegen und dort abzuwerfen, konnte er sich der Hörner des Teufels nicht erwehren. Sie durchlöcherten den Sack, aus dem sich schließlich der Steinsegen ergoss.
Eine steinreiche Gegend
Just über jenem Gebiet, das heute mehr und mehr Wanderherzen erfreut – mit seinen wildromantischen, steingesäumten Wegen, seinen spektakulär unspektakulären Dörfern, die mit ihren steinigen Karsthäusern quasi zu Zeitreisen in die Vergangenheit einladen, mit den so gar nicht harten Menschen, deren Authentizität, Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit einfach nur guttun. Und mit seiner Stille, dann und wann von Grillengezirp und Wind durchbrochen.
Mainstreamrouten, wie Alpe-Adria-Trail oder Via Alpina, lassen es sich nicht nehmen, dieses Wanderparadies zu streifen. Der echte Feinspitz hat jedoch abseits davon so einiges zu entdecken. Nicht von ungefähr war das auf den ersten Blick unscheinbare slowenische Dorf Tomaj für den genialen Karstdichter Kosovel Inspiration.
Der mehr als 700 Jahre alte Ort fungierte einst als geistiges Zentrum des Karsts und wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit der Errichtung einer Klosterschule berühmt. Die für den Ort fast überdimensionale Kirche St. Peter und Paul lässt Bedeutendes vergangener Tage erahnen. Der herrliche Blick auf Wälder, Karstwiesen und Weingärten, in denen aus der roten Erde die berühmte rote Karstrebe Teran sprießt, motiviert von diesem malerischen Punkt aus zum Wanderglück.
Wein und Wandern
Die Versuchung ist groß, sich gleich auf den Weg ins Nachbardorf Dutovlje zu machen. Denn es ist der Ausgangspunkt des sieben Kilometer langen Teranweges, gewidmet dem hiesigen „Wein der Starken“. 26 Stationen entlang des flachen Pfades lassen nicht nur den guten, tiefroten Tropfen hochleben und die stille Landschaft genießen, sie laden auch ein, tiefer in die Geschichte des Karsts einzutauchen.
Es geht vorbei an alten typischen Karstgehöften und Futtertrögen, die in das raue Bauerndasein von anno dazumal blicken lassen, an einer Kaverne, die als Höhle im Ersten Weltkrieg ihre Dienste leistete, wie an einem Soldatenfriedhof aus dieser Zeit. Eine Abzweigung führt auf die Wanderroute „Maria-Theresien-Straße“. Die einstige geschäftige Handelsstraße wurde nach der Kaiserin benannt, da sie Erzählungen nach diese auf ihrem Weg nach Triest benutzt haben soll. Laut Geschichtsbüchern war sie aber nie persönlich zugegen.
Durch die Dunkelheit
Auch die Bahntrasse der vor rund 120 Jahren erbauten „Karstbahn“ kreuzt hie und da den Weg. Ein kleiner Lotto-Sechser für den Abenteurer auf Schusters Rappen bietet sich dort, wo ein aufgelassener Teilabschnitt durch einen circa 500 Meter langen Tunnel führt. Taschenlampe an und durch – das bleibt unvergesslich. Wie auch jener Moment, an dem man schließlich den magischen Kraftplatz Monrupino (auf Slowenisch Repentabor) auf italienischem Boden erreicht.
Eine pittoreske Festung, die heute eine Wallfahrtskirche im Ensemble mit Pfarrei und steinernem „Haus der Gemeinsamkeit“ schützt. Man hat sich diesen Frieden, diese Stille und den gewaltigen Blick über die Bucht von Triest bis nach Grado redlich erwandert. Und letztlich auch endlich ein gutes Glas Teran mit klassischem Schinken – in einer der vielen, in ihrer Echtheit vereinnahmenden Osmizzen. Er schmeckt auch gut, der Karst.
Regina Rauch-Krainer