Kyrillisch? Das Polnische ist mit seinen mannigfaltigen Sonderzeichen für Unkundige ohnehin schon ein gefährliches Netz von Fallstricken, wenn es um die korrekte Aussprache geht. Aber lesen kann man die lateinischen Buchstaben immerhin. Hinter den fremdartigen Zeichen verbirgt sich Ropki. Ein Dörfchen mitten im Nirgendwo.
Beim Reisen die ausgetretenen Pfade verlassen, heißt es immer so schön. Aber in den Niederen Beskiden, die sich über den Südosten Polens und in die benachbarte Slowakei erstrecken, drängt sich das Gefühl auf, dass die Pfade hier in Vergessenheit geraten sind. Und mit ihnen auch ein Teil der Bevölkerung: die Lemken – auch Russinen genannt –, die in der Region siedelten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grenzen Polens neu gezogen und die Volksgruppe umgesiedelt, vertrieben, viele wanderten in die USA aus. Wie auch die Eltern des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol.
Aber einige von ihnen sind wiedergekehrt. „Ich bin weit weg von hier geboren, aber als ich zwei Jahre alt war, haben sich meine Eltern entschieden, hierher zurückzukommen“, sagt Grazyna, die gemeinsam mit ihrem Mann Michal das Gästehaus Swystowy Sad betreibt. Wobei dieser Begriff den Kern der Sache nicht trifft – vielmehr ist es eine Berufung.
Hier, am Ende der Straße von Ropki, bei der man sich einige Kilometer lang nicht sicher ist, ob sie überhaupt irgendwo hinführt oder wie der anfängliche Asphalt ins Nichts entschwindet, sagen sich wahrlich Fuchs und Hase gute Nacht. Auch wenn es im konkreten Fall die Hofhunde Ronja, Mitrat und Kula und die Hühner sind. Die Kinder tollen unter den Bäumen des alten Obstgartens, die Erwachsenen finden endlich die Zeit, ein gutes Buch im Liegestuhl zu lesen, Teenager drängen sich mit ihren Smartphones rund um das Haus mit dem kleinen, eingezäunten Bauerngarten, weil es nur dort Handyempfang und Wlan gibt.
Sattelfest - so oder so
Wenn Grazyna die Glocke läutet, dann kommen nicht die Tiere gelaufen, sondern die Gäste. Die großen Tische im alten Holzhaus sind gedeckt mit den Köstlichkeiten, die sie als leidenschaftliche Köchin über dem Feuer des altertümlichen Herds aus Zutaten gezaubert hat, die auf dem eigenen Hof oder einem der Nachbarn ihren Ursprung haben. Wie man mag, setzt man sich auf die langen Bänke, kommt mit anderen ins Gespräch, die die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen. Und das ausgezeichnete, rein vegetarische Essen, das selbst bei Fleischversessenen keine Sehnsüchte aufkommen lässt.
Mit ihren wie Wellen wogenden, bewaldeten Hügeln ist die Region wie dafür gemacht, sie mit dem Fahrrad zu erkunden. Grazyna hat beim lokalen Verleih E-Bikes organisiert, die pünktlich nach dem üppigen Frühstück wie eine Mahnung, die Kalorien gleich wieder abzutrainieren, vor der Türe stehen. Nach ein paar Kilometern blitzen zwischen den Baumkronen hölzerne Zwiebeltürme auf. Fremdenführer Jan Hyra wartet bereits vor der Kirche von Kwiaton, als wir aus dem Sattel steigen.
Ursprünglich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts errichtet, illustriert das zur Gänze mit Holzschindeln verkleidete und weitgehend ohne Nägel konstruierte Gotteshaus die Geschichte der Region. Einst wurde hier die Messe nach dem griechisch-katholischen Glauben der Bevölkerung gefeiert. Mit ihrer Vertreibung wurde der lateinische Ritus eingeführt. Geblieben sind die orthodox anmutenden Ikonen.
Diese und 15 weitere für die Karpaten so typischen Holzkirchen in Polen und der Ukraine wurden von der Unesco auf die Liste des Weltkulturerbes gesetzt. Geben tut es in der Umgebung von Kwiaton noch einige mehr, wie etwa in Skwirtne, Owczary, Brunary.
Vom Sattel des Fahrrads steigen wir direkt in den nächsten. Er liegt auf dem Rücken eines Huzulen, einem Pferd von kleinem Wuchs und mit kleiner Population aus den Karpaten. Beinahe wäre die Rasse nach dem Zweiten Weltkrieg ausgestorben, mit rund 300 Tieren ist das Gestüt in Regietów Nizne die größte Zuchtstätte weltweit. Die Huzulen passen perfekt in diese Landschaft: Sie sind kräftig, um den Menschen bei der Arbeit zu helfen. Trittsicher, um die Berge zu bewältigen. Robust, wenn der Winter mit eisiger Kälte Einzug hält, und genügsam, wenn schwere Zeiten kommen.
Diese Eigenschaften machen sie zu wunderbaren Begleitern auf geführten Wanderritten, wie sie das Gestüt anbietet. Eine der Touren führt auf den Berg Rotunda, wo oberhalb eines verlassenen Dorfs Kreuze an eine dieser schweren Zeiten erinnern. Bei der Durchbruchsschlacht bei Gorlice-Tarnów – damals Galizien, Kronland der k. u k. Monarchie – traf im Mai 1915 die russische Armee auf die Streitkräfte der Mittelmächte, also Österreich-Ungarn und Deutschland. Fast 100.000 Soldaten blieben auf ewig in den Bergen der Niederen Beskiden zurück. Ein weiterer unter den zahlreichen Friedhöfen dieser Art liegt auf dem Gipfel Magura Malastowska.
Von Obst und Öl
Die Berge und Täler sind wie gemacht für Wanderer, die nicht nur Besonderheiten wie die Buchenwälder bereithalten. Immer wieder stößt man auf Fundamente von für Brennholz abgetragenen Häusern, erzählt ein verwilderter Apfelbaum von einem einstigen Obstgarten, kündet ein überwachsenes Marterl am Wegesrand von den Menschen, die hier einst geglaubt, gelebt und gearbeitet haben.
Einem außergewöhnlichen Beruf gingen die Lemken im Dorf Losie nach. Denn lange bevor Magnaten in Texas oder Scheichs in den Golfstaaten nach dem Schwarzen Gold bohrten, sprudelte es in den Beskiden einfach so aus dem Boden. Das reizende Freilichtmuseum Zagroda Maziarska erzählt die Geschichte der fahrenden Händler des Stoffs, der bald die ganze Welt schmieren sollte. Sogar Rockefeller kam aus den USA in die Region, um sich eine der ersten Erdölförderungen der Geschichte in Bóbrka anzusehen. Das kann man bis heute tun. Und schwelgen in den Erinnerungen an diese vergessene Welt.