Pro…? Wie? Procida! Aha-Momente bleiben in unseren Breiten oft dürftig, spricht man von der einhundertzweiundneunziggrößten der insgesamt rund 200 Inseln im Mittelmeer. Zugegeben, dieses Ranking bürgt nicht unbedingt für Bekanntheit. Schon eher das Faktum, dass die phlegräische Vulkaninsel als kleine Schwester der glamourösen „Grandes Dames“ Ischia und Capri um ihren Platz im Golf von Neapel rittert.
Im Fischerdorf Marina Corricella geht man in einer bunten Bilderbuchszenerie vor Anker: Sich überlagernde pastellfarbene Häuser bilden einem Amphitheater gleich die Zuschauertribüne für das Schauspiel in der azurblauen Hafenbucht. Für die faszinierten Besucher sind sie selbst die bunten Protagonisten.
Auf dem Rest der 4,1 Quadratkilometer kleinen, aber bestechend authentischen Insel voller bis dato touristisch kaum ausgespielter Triumphe dominiert heuer ein zartes Rosarot. Es ist die offizielle Farbe von „Italiens Kulturhauptstadt 2022“. Der wortverspielte Slogan „La cultura non isola“ („Kultur isoliert nicht“) präsentiert sich an allen Ecken und Enden von Plakaten, Fahnen und Fähnchen, die nicht einmal vor Wäscheleinen haltmachen. Sie sind Ausdruck des Stolzes der 11.000 Procidaner. Mit dem honorigen Titel, den das „Bel Paese“ nach europäischem Vorbild seit 2015 auf nationaler Ebene auslobt, reiht man sich immerhin in die Liga der Großen wie Mantua oder Palermo ein.
Und trotz Kleinheit wird einiges aufgewartet: 44 offizielle Kulturprojekte, 150 Veranstaltungen in Kooperation mit 350 Künstlern aus 45 Ländern an insgesamt 300 Veranstaltungstagen.
Die Insel, die ein Geheimtipp bleiben möchte
Dennoch weht mit der Meeresbrise auch ein spürbarer Hauch von Ambivalenz auf der Insel, die bis jetzt als Geheimtipp firmierte und auch weiterhin Sinnbild für Slow Tourism bleiben möchte. Natürlich herrscht Freude über die aus dem Titel generierten Gelder, besonders für mehr Investitionen in die auf der Insel vorbildlichen Bemühungen um Nachhaltigkeit.
Auf Massentourismus ist man jedoch nicht eingestellt, war man doch auf Urlaubsgäste hier nie angewiesen. „Dass Procida stets unabhängig vom Tourismus lebte, hat mit der großen nautischen Tradition der Insel zu tun. In unserem ,Istituto Nautico‘ werden seit 1833 die besten Kapitäne und Seefahrer Europas ausgebildet“, lässt die charmante Gaja von einem der auf der Insel eher rar gesäten Hotels wissen. „Wie mein Opa ist ein großer Teil unserer Männer immer schon ab einem Alter von 18 Jahren in See gestochen, um in der Ferne das Geld für sich und später für ihre Familien zu verdienen. Viel Geld! Die Insel ist aus diesem Grunde glücklicherweise keine arme.“
Dieser Umstand erklärt auch, warum das pittoreske Inselchen, das bekannteren Touristen-Hotspots bei atemberaubender Naturszenerie sowie Kulturhistorie keineswegs nachsteht, so verblüffend „unverdorben“ wirkt. Hinter den Stränden schwarzen Lavasands und steinigen Buchten finden sich keine Supermärkte, sondern Greißlerläden wie aus fernen Kindheitstagen, keine Bettenburgen, sondern kleine Hotels und Bed-and-Breakfast-Unterkünfte, die jetzt allerdings – der „Kulturhauptstadt“ geschuldet – zunehmend aus dem Boden sprießen. Nein, die Zeit ist hier nicht ganz stehen geblieben, aber vieles wirkt, fern rasender Festlandhektik, ein wenig wohltuend altbacken.
Auf Procida werden Traditionen sehr hochgehalten, wie auch die Religion. Stolze 14 Kirchen – die wohl schönste unter ihnen die Abtei San Michele Arcangelo aus dem 16. Jahrhundert mit imposanter holzgetäfelter Barockdecke – zeugen davon. So auch Mutter-Gottes-Altäre, gefühlt an jeder Ecke der engen, hügeligen Straßen, in denen es stets vor Elektrobikern und Elektrobussen wimmelt.
Die Madonnen mögen wohl auch die große Rolle der irdischen Inselfrauen widerspiegeln, die hier aufgrund der langen Abwesenheiten ihrer Männer auf See seit jeher das Heft in der Hand hielten. Die hohe Achtung ihnen gegenüber gipfelt in der Verehrung der „Graziella“. Die Romanfigur, die der französische Autor Alphonse de Lamartine Mitte des 19. Jahrhunderts ins Leben rief, ist für die Einwohner zu einem wahren Inselmythos und zum Inbegriff typisch procidanischer Schönheit geworden.
Während des jährlichen Meeresfestes wählt Procida seine Graziella: das schönste Mädchen, geschmückt und gekleidet in der typischen Tracht der Insel. Bewundert kann dieses Kunsthandwerk in der „Casa della Graziella“ werden, deren Terrasse als höchster Punkt der Insel auch ein wahrer Geheimtipp für einen grandiosen Rundumblick ist.
Diese Spezialität ist sauer
Dabei stechen einem auch die wunderbaren Zitrusgärten ins Auge. Die Insel der Frauen wird nämlich offiziell als „Insel der Zitronen“ tituliert. Nicht von ungefähr: Das städtische Rosa, schön und gut. Aber es kann dem Gelb der einzigartigen Procida-Zitrone nicht den Rang ablaufen. Sie gedeiht hier besonders gut, mit mildsüßer Säure. „Unsere Inselküche ist voller Zitronenfreuden – von der Vorspeise bis zum Eisdessert. Besonders gerne bereiten wir Zitronensalat aus der kräftigen weißen Innenschale zu, gemeinsam mit Zitronenöl, Minze, Pfefferoni und Knoblauch, der bei uns ein wenig wie Zwiebel schmeckt“, lässt Valeria wissen. In ihrem Shop ist alles zu bekommen, was sich aus der sogenannten „Brotzitrone“ herstellen lässt: vom Zitronen-Risotto bis zum beliebten Limoncello-Getränk.
Doch schließlich gilt es, auch einzelne Früchte der „Kulturhauptstadt 2022“ zu pflücken. Einen spannenden Einblick in die theatralische Seele einzelner Procedanierinnen und Prodedianer bietet dabei das Schauspiel „Happening of Human books“, das mit Körperarbeit „sprachbarrierenfrei“ als stärkstes Ausdruckselement agiert. Seit Juli arbeitet die umtriebige Stefania Piccolo, Präsidentin der neapolitanischen Kulturinitiative Officinae Efesti, mit rührigen Amateuren von 9 bis 79 Jahren an der Interpretation des Werkes „Der Unsterbliche“ von Jorge Luis Borges. Publikum ist während des „work in progress“ in der bestechenden Atmosphäre der aufgelassenen Kirche San Giacomo jederzeit willkommen – und ganz besonders auch im September bei den vollendeten Aufführungen.
Palast, Gefängnis und Museum
Seinem historischen Kern, dem mächtigen Komplex des Palazzo d’Avalos, der das pittoreske mittelalterliche Festungsdorf Terra Murata gute 90 Meter über dem Meer beherrscht, setzt Procida heuer für den interessierten Kulturgast die Krone auf. Und zwar mit zwei großartigen Ausstellungen, die mit der außergewöhnlichen Geschichte dieses Ortes in Dialog treten.
Im 16. Jahrhundert vom Herrschergeschlecht Avalos erbaut, diente der gewaltige Komplex in der Folge den Bourbonen als Königspalast von ergreifender Schönheit, bis er schließlich 1830 in ein Gefängnis umgebaut wurde. Berühmtheit erlangte die bis 1988 betriebene Haftanstalt nicht nur mit ihrer imposanten, privilegierten Lage, sondern auch dafür, dass die Gefangenen hochgeschätztes Leinen produzierten. Dies bestickten die Procidanerinnen und bauten damit einen florierenden Wirtschaftszweig auf.
Dem spannenden Widerspruch in der Bestimmung des Gebäudes über die Jahrhunderte widmen sich internationale Künstler in den atemberaubenden Räumlichkeiten vor Ort. Beim Wandeln durch die riesigen Renaissanceflure, vorbei an ehemaligen Gefängniszellen mit Originalbetten, Schuhen oder ausgestellten Leinenerzeugnissen mögen nicht nur eingefleischte Fans von Lost Places den Atem in höchster Faszination anhalten.
„In vielen Haushalten hier findet man heute noch das Originalleinen aus dem Gefängnis“, erzählt Wiebke, die als deutschsprachige Volontärin den Gästen „Procida 2022“ näherbringt. Auf ein Glas Wein geht es dann am besten ins Lokal ihres Mannes Tarcisio, eine private Kulturinitiative. In seiner „Vineria Letteraria“ lässt es sich bei einem guten Tropfen in Büchern schmökern. Sollte sich Reiseliteratur über Bergamo und Brescia darunter finden, bitte zugreifen! In Vorbereitung auf Italiens Kulturhauptstädte 2023.
Regina Rauch-Krainer