Fast 1500 Kilometer trennen uns vom Meer. Wir wählen den Weg über Straßburg und Metz. Dann Verdun: rote Rosen am Grab des Jean Daugey, gefallen am 2. September 1916 in einem Schützengraben im nicht enden wollenden Stellungskrieg. Seines ist eines von mehr als 16.000 weißen Kreuzen am Mémorial bei Douaumont. Christliche, jüdische, arabische Soldaten aus aller Welt – dieser Krieg hat keinen Unterschied gemacht.

Das Meer von Weiß, ergänzt um das Rot der Rosen unter azurblauem Himmel in Verdun, gebietet es, innezuhalten und zu schweigen. Im Gedenken an die vielen jungen Leben, die der „Grande Guerre“, der „große Krieg“, wie ihn die Franzosen nennen, als Tribut gefordert hat.

Ein Museum zeichnet das Grauen nach: die Knochen von 130.000 nicht identifizierten Gefallenen im Beinhaus, 700.000 Tote, Verwundete und Vermisste, die allein dieser Schlacht des Ersten Weltkriegs zuzuordnen sind. Es sollte nicht der letzte Schauplatz eines verheerenden Krieges bleiben, doch dazu später.

Gedenkstätte von Verdun: 16.000 weiße Kreuze und Gedenksteine für Gefallene mit anderer Religionszugehörigkeit
Gedenkstätte von Verdun: 16.000 weiße Kreuze und Gedenksteine für Gefallene mit anderer Religionszugehörigkeit © Claudia Gigler

Champagner für eine Nacht

Die Route führt zunächst in Richtung Reims, mitten in die prickelnde Champagner-Region. Franck Bergeronneau, bei dem wir uns telefonisch für die Nacht angesagt haben, wartet schon. Der Deal: Wir zahlen 25 Euro für die Nacht – oder kaufen sechs Flaschen Champagner nach Kellerbesuch und Verkostung. Selbstredend entscheiden wir uns für Variante Nummer 2. Mit leuchtenden Augen – und unter Zuhilfenahme des Google-Übersetzers – erzählt uns Franck von seinem erdigen Alltag als kleiner Winzer im Mekka des Schaumweins.

Champagner von Franck Bergeronneau - im Austausch für den Stellplatz für eine Nacht
Champagner von Franck Bergeronneau - im Austausch für den Stellplatz für eine Nacht © Claudia Gigler

Von Reims mit seiner riesigen Kathedrale wenden wir uns nordwärts. 300 Kilometer weiter liegt Gravelines, unser erster Stützpunkt an der Opalküste, gleich hinter den Dünen. Dahinter ein schiefer Turm, Gruß aus der Vergangenheit. Gravelines und Oye-Plage, nicht weit von Dunkerque, sind heute ein traumhaft schönes Naturschutz- und Vogelbeobachtungsgebiet. Im Zweiten Weltkrieg allerdings Teil der monströsen Befestigungen, des „Atlantikwalls“. Der schiefe Turm konnte nicht gesprengt werden, er ging nur in die Knie.

Der schiefe Turm von Gravelines, ein Kriegsrelikt
Der schiefe Turm von Gravelines, ein Kriegsrelikt © Claudia Gigler

Bunker für die Ewigkeit

Nicht einmal das taten die Bunker, die mit der vernarbten Landschaft verwachsen sind. Die Dünen sind von Schützengräben und Bombenkratern durchzogen. Das sich im Wind wiegende Dünengras und die Heerscharen von Vögeln stehen für den heutigen Frieden. Gleich dahinter endlos breite Strände, doch mit jeder Flut holt sich das Meer seinen Raum zurück.

Das Echo tausendfachen Leides und sinnlicher Genuss – im „Au Cap Compas“ in Gravelines werden Lachstartar und Gänseleber serviert, vom Feinsten. Und Entrecôte – das für die französische Küche so typisch geschnittene und zubereitete Zwischenrippenstück – mit den unvermeidlichen, aber hausgemachten und hervorragend mundenden „Frites“.

Rodins Denk-mal „Die Bürger von Calais“ vor dem Rathaus der Stadt am Ärmelkanal
Rodins Denk-mal „Die Bürger von Calais“ vor dem Rathaus der Stadt am Ärmelkanal © david hughes/stock.adobe.com

Nächster Halt: Calais. Auguste Rodins „Bürger von Calais“ als Mahnmal für Mut und Opferwillen – ein anderes Jahrhundert, ein anderer Krieg. Der Hundertjährige im 14. und 15. Jahrhundert, um genau zu sein.

Stolz ist Calais auch auf „seinen“ General Charles de Gaulle, der den französischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland von England aus unterstützte und einer der Ersten war, der zurückkehrte, um – auch gegenüber den Alliierten – die Eigenständigkeit Frankreichs einzumahnen. Eigentlich wurde ja nicht er, sondern „nur“ seine Frau in Calais geboren. Aber so genau nimmt man das hier nicht.

Käse, Äpfel & Co.

Wir passieren „Les Deux-Caps“, die weiße und die graue Felsnase mit ihren Leuchttürmen als Gegenüber der Kreidefelsen von Dover. An der weiten Sandbucht bei Wissant wird in einem Lokal eine Schüssel „Moules-frites“ aufgetischt, endlich. Frisch geerntete Miesmuscheln, im Weinsud gegart, mit cremiger Käse- oder würziger Currysauce.

In Wissant ist tags darauf Wochenmarkt. Hier wird der Genuss zelebriert, mit frischen Austern, Kostproben von Camembert, Livarot und Pont-l’Évêque, obstbeladenen Tartes, Crêpes und ihren Verwandten, den mit Buchweizenmehl angerührten Galettes. Und veredelten Äpfeln: Cidre, Calvados, Pommeau – eine Mischung aus Apfelsaft und jungem Apfelbrand, der den Saft am Gären hindert und so das volle Aroma bewahrt.

Endlos breite Strände vor Gravelines
Endlos breite Strände vor Gravelines © Brad Pict/stock.adobe.com

Wir sind angekommen in der Normandie. In Le Tréport erkunden wir die hoch aufragenden Kreidefelsen. Eine Zahnradbahn ermöglicht müheloses Pendeln zwischen luftigem Ausguck und belebtem Strand. Wir sind viel mit den Fahrrädern unterwegs, immer wieder gibt es Abstiche zum Strand, oft mit steilen Stiegen vom Ende der Straße bis in den Sand, oft mit Wanderwegen durch die Dünen, die die einzelnen Strände verbinden. Der Wind ist unser ständiger Begleiter.

Idylle und Faszination

In Veules-les-Roses genießt man die Idylle, mit alten Waschplätzen entlang eines munter durch den Ort plätschernden Baches, geprägt von hemmungslos wuchernden Blumen und Büschen. Es ist eines der „schönsten Dörfer Frankreichs“, wie sie in Büchern beschrieben werden. Der Ruhm sorgt dafür, dass es sich fallweise staut beim Spazieren und sich immer wieder lästige Passanten ins Fotomotiv schieben.

Am Fuße der Kreidefelsen von Étretat halten wir den Atem an: Die zerklüfteten Klippen und die giftig grünen Arrangements im nahen Jardin Étretat liefern sich einen edlen Wettstreit um den Schönheitspreis. In der Stadt selbst ist die Hölle los, aber es findet sich immer ein Plätzchen, an dem man luftige Crêpes oder Kir Normand genießen kann, mit einem Schuss des fermentierten Apfeltraums im Champagner.

Die Klippen von Étretat
Die Klippen von Étretat © egon999/stock.adobe.com

Le Havre lassen wir rechts liegen, obwohl es diese nach der restlosen Zerstörung 1944 neu hochgezogene und etwas rau anmutende Betonstadt geschafft hat, zum Weltkulturerbe aufzusteigen. Dafür ein Halt bei der Abtei Jumièges an der Seine, mächtig aufragende Ruine einer Benediktinerabtei. Im Jahr 1431 war der dortige Abt einer der Hauptbeteiligten am Prozess gegen Jeanne d’Arc, die im Alter von 19 Jahren in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Die Abbaye von Jumièges, einst eine mächtige Benediktinerabtei
Die Abbaye von Jumièges, einst eine mächtige Benediktinerabtei © Taljat/stock.adobe.com

Der Zweite Weltkrieg setzte auch Rouen, der Hauptstadt der Normandie, schwer zu, doch große Teile der historischen Bausubstanz samt Kathedrale wurden gerettet bzw. wieder aufgebaut. Eine der schönsten Kirchenfassaden Europas – und wie so viele andere Kathedralen, etwa jene in Reims oder in Straßburg, im Sommer Kulisse für faszinierende Licht- und Ton-Installationen nach Sonnenuntergang. Uns faszinieren auch die Straße der Tuchmacher mit ihren alten Fachwerkhäusern entlang eines mitten in der Stadt munter vor sich hin plätschernden Baches und die üppig breite Promenade an der Seine.

Krieg und Untergang

Zurück an der Küste noch eines dieser „schönsten Dörfer“, diesmal Honfleur. Parken muss man weit außerhalb, weil alle Straßen und Plätze in Zentrumsnähe verstopft sind. Sei’s drum – es ist wirklich wunderhübsch. Und im Hinterland passieren wir auch noch die Luxusvillen jener, die zum gemeinen Volk lieber auf Abstand gehen.

Das pittoreske Honfleur: Eines der 100 schönsten Dörfer Frankreichs
Das pittoreske Honfleur: Eines der 100 schönsten Dörfer Frankreichs © djekker/stock.adobe.com

Vorbei geht es danach an den Landungsstränden der alliierten Truppen, über „Sword“-, „Juno“-, „Gold“-, „Omaha“- zu „Utah“-Beach, wie die Codenamen der Küstenabschnitte lauteten. Ein hervorragendes Museum in Caen, das 360-Grad-Kino in Arromanches-les-Bains, Bunker, in denen Ausstellungen die Geschehnisse am D-Day im Juni 1944 und danach dokumentieren. Und Erinnerungsorte auf Schritt und Tritt, so wie etwa Hunderte Wimpel an den Küstenpromenaden, von denen jeder einem bestimmten Soldaten gewidmet ist, der dort sein Leben ließ.

Die Redoutable - Frankreichs erstes Atom-U-Boot, heute zu besichtigen im Museum
Die Redoutable - Frankreichs erstes Atom-U-Boot, heute zu besichtigen im Museum © Claudia Gigler

Geschichte und Geschichten in anderer Form begegnen uns in Cherbourg. Von hier aus stach die RMS Titanic in See. In der „Cité de la Mer“ reisen wir auf den Spuren der Überlebenden und der Toten ihrer Kollision mit dem Eisberg.

In Cherbourg liegt auch die La Redoutable vor Anker, das erste Atom-U-Boot der französischen Marine. Der Hinweis darauf, dass Boote wie dieses mit Atomraketen ausgestattet sind, die eine Reichweite von 3000 Kilometern haben, lässt so manchen Konflikt in der Ferne plötzlich unangenehm nah erscheinen …

Le Mont St. Michel - immer ein Erlebnis, auch wenn er zu dieser Jahreszeit von Massen erstürmt wird
Le Mont St. Michel - immer ein Erlebnis, auch wenn er zu dieser Jahreszeit von Massen erstürmt wird © Tilio & Paolo/stock.adobe.com

Mit dem Mont-Saint-Michel und dem bereits in der Bretagne liegenden St. Malo sind wir schließlich am Ziel: restlos überlaufen und doch wunderschön, die Führung durch die Abtei du Mont-Saint-Michel etwa, „Les Nocturnes“ bei Nacht, eine berührende Licht- und Toninstallation. Oder der Weg über die Stadtmauer von St. Malo.

Der Dudelsackpfeifer in St. Malo erinnert an die keltische Tradition. Die bekanntesten Kelten aller Zelten sind bekanntlich Asterix und Obelix, und sie werden im bretonischen Erquy verortet, nur 46 Kilometer von hier. Aber das ist eine andere Geschichte …