Einst lebte in einem kleinen Dorf im Nordosten Bulgariens ein Mädchen, es war das schönste weit und breit. Schriftsteller Jordan Jowkow taufte die Figur aus seiner Erzählung auf den Namen Albena, der für Anmut und Reinheit steht. Viele Mädchen und Frauen in dem Land auf der Balkanhalbinsel tragen ihn – und auch eine ganze Stadt.
1969 wurde das jüngste und kostspieligste Seebad der sozialistischen Ära Bulgariens eröffnet. Architekt Nikolai Nenov säumte den vielleicht schönsten Strand der Schwarzmeerküste mit einer Reihe kubistischer Hotels, in denen so gut wie jedes Zimmer Blick aufs Wasser hat. Weil die Hotelstadt mit eigener Postleitzahl 9620 und Krankenhaus inmitten des rund 200 Hektar messenden Naturschutzgebiets Baltata liegt, dürfen neue Bauten heute nur auf der Grundfläche alter errichtet werden, die zuvor geschliffen wurden.
Zwischen Plattenbau und Prestige
Damit ist Albena bettenmäßig ein Winzling im Vergleich zu den Resorts Gold- und Sonnenstrand, die weiter südlich entlang der Küste liegen. Und durch die westliche Brille betrachtet eine spannende Mischung aus nostalgischem Plattenbau – wie dem weithin sichtbaren Drei-Sterne-Hochhaus Dobrudscha – und dem 2019 eröffneten Maritim-Hotel Paradise Blue ganz auf der Höhe der Zeit.
Ewig zuhören könnte man Ognyan Softov, wenn er mit reizendem Akzent in fließendem Deutsch von den Packungen mit Meerschlamm oder Behandlungen mit Mineralwasser schwärmt, das in Albena praktischerweise aus dem Boden sprudelt. Er ist der ärztliche Leiter des Medical-Spa-Komplex, der Wellness- und Gesundheitsbehandlungen anbietet. „Hmmm, da machen wir am besten eine Packung mit Bienenwachs“, grübelt er anhand der beschriebenen Wehwehchen. „Oder mit unserem Schlamm. Unser Schlamm ist der Beste!“ Diagnose: So charmant wird man sonst nirgendwo in Naturprodukte gepackt.
Sichere Seite des Schwarzen Meeres
Über die letzten beiden Coronasommer fiel so manches der insgesamt 33 Hotels in einen Dornröschenschlaf, aus dem sie nun zu Beginn der Saison geweckt werden. Ob 2022 alle aufsperren werden? Verkaufsleiterin Velina Gyumova kann die Frage noch nicht beantworten. „Die Kunden haben sich angewöhnt, ihren Urlaub immer später zu buchen.“ Auch wegen des Kriegs in der Ukraine fürchtet sie, dass heuer weniger Gäste kommen könnten. Obwohl auf der sicheren Seite des Schwarzen Meeres, liegt die Sorge in ihrem Blick, der über die türkisblauen Wellen streift. Einige Hundert Flüchtlinge hat das Resort aufgenommen, viele werden in der Saison in den Hotels anheuern.
Mitarbeiter wie Gäste nutzen auf dem riesigen Gelände das Angebot der Elektro-Shuttles, Leihräder und Buslinien, das Auto kann also getrost auf dem Parkplatz beim Eingang des Resorts bleiben. Die Steigung zwischen dem Strand und den Hotels auf dem bewaldeten Hügel wird durch eine regelrechte Attraktion überwunden, mit der man selbst dann unbedingt fahren sollte, wenn man ganz woanders eingecheckt hat: einer Freiluft-Rolltreppe.
Lactobacillus bulgaricus zum Dessert
Die kennt auch Dimo Atanasov gut, selbst wenn er schon vor einiger Zeit seinen Job als Animateur in Albena an den Nagel gehangen und in das Fach der Gastronomie gewechselt hat. Als Mitbegründer des Weinklubs Warna hat er sich ganz den edlen Tropfen der Region verschrieben und führt durch die Schattierungen von Weiß über Rosé bis Rot. „Wenn Sie jemand fragt: Hier wird nicht getrunken, sondern gekostet“, scherzt er und seine Mundwinkel zwirbeln den gekräuselten Schnäuzer nach oben, dann eilt er in die Küche, um den nächsten selbstgekochten Gang zu servieren.
In Bulgarien wird ein Querschnitt aus Balkan- und Mittelmeerküche aufgetischt. Der eben im Garten gebrockte Rosmarin hat beim Schmoren im traditionellen Tontopf Gjuwetsch mit Schweinefleisch, Erdäpfeln und Pilzen seine Schuldigkeit getan. Zum Dessert trifft man den Lactobacillus bulgaricus. Völlig ungefährlich, man holt sich höchstens einen Nachschlag des bulgarischen Joghurts.