Vor 10.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, wurde „Höga Kusten“ – zu Deutsch „Hohe Küste“ – ihrem heutigen Namen noch nicht gerecht. Denn damals lag das Land unter einer drei Kilometer dicken Eisdecke begraben. Aufsehenerregend erhob es sich dann nach dem Abschmelzen der eisigen Massen zur heute höchsten Küste der Welt mit bis zu 285 Metern über dem Meeresspiegel. Und sie strebt noch weiter nach oben – jährlich um einen knappen Zentimeter.
Dieses geologische Phänomen und in dessen Folge seine einzigartige wie weitgehend unberührte Landschaft im Zusammenspiel von Meer, Schäreninseln (die ebenso noch wachsen!), zarten Berggipfeln, uralten Wäldern, Schluchten und weiter im Landesinneren unendlichen Weiten brachten Höga Kusten im Jahre 2000 den ersten Weltnaturerbe-Titel der Unesco in Schweden ein.
Längst von Outdoor-Fans aller Welt im Sommer erobert, rangiert die Region als wahres Winterurlaubsmärchen noch in der Kategorie Geheimtipp. Die vielen eisigen Zuckerln genießt man am besten in der hiesigen „fünften Jahreszeit“, dem „Frühjahrswinter“ von Februar bis in den April hinein, wenn es nicht mehr ganz so kalt und dunkel, aber die Schneedecke noch recht sicher ist.
Hat man die atemberaubende Hängebrücke „Höga Kusten“ alias Schwedens „Golden Gate Bridge“ überquert, winkt bereits das Winterwanderland an der Küste, der Nationalpark Skuleskogen. Diesen „Wildesten aller Wälder“ mit oder ohne Schneeschuhe zumindest ein Stückchen des insgesamt 130 Kilometer langen Wanderwegenetzes der Region zu erobern, fühlt sich mystisch an: Bis zu 500 Jahre alte Bäume, die trotz weißen Schneekleids Urwaldflair versprühen, hie und da Spuren oder mit etwas Glück sogar der Anblick von Elchen, Rehen, Luchsen oder Füchsen.
Die gewaltige 40 Meter hohe Felsspalte Slåttsdalsskrevan, ein geologisches Wunder und unschlagbares Fotomotiv zugleich, und das alles gespickt mit unendlicher Stille und endlosen Ausblicken auf den Archipel im Bottnischen Meerbusen der Ostsee. Gar nicht so leicht, sich von der Küste und den Fischerdörfern wie Norrfällsviken oder Bönhamn, wo die Zeit nicht nur im Winterschlaf stillzustehen scheint, loszureißen. Doch es lohnt sich. Denn im Landesinneren präsentiert sich der nordische Winterzauber nicht weniger faszinierend.
Auf der Farm Backsjön, die einem Astrid-Lindgren-Buch entsprungen scheint, sagen sich mitten in der wilden, weißen Einöde Hund’ und Katz’ Gute Nacht. Allerdings heulen dabei gleich 32 Huskys, ia-hen sechs Esel, gackern stolze Hennen und miaut eine Katze. „Wir haben hier das Paradies auf Erden. Und daran lassen wir gerne teilhaben“, erläutern Carolina Visser, einst Managerin in den Niederlanden, und ihr Mann Hasse, durch und durch Naturmensch schwedischen Formats, ihre Lebensphilosophie. Kein Gerede, sie machen das wahr.
Einquartiert in einem der gemütlichen Cottages, an dem dann und wann ein Rehlein vorbeiziehen mag, breitet sich die weiße Pracht vor einem aus. Unvergesslich ist die erste Bekanntschaft mit den Huskys. Noch hinter dem Zwingerzaun ziehen einen die Schlittenhunde in ihren Bann, mit ihrer Zutraulichkeit und unwiderstehlichen Blicken, aus denen unverkennbar ihr Vorfahre, der Wolf, hervorlugt. Sobald Carolina Zutritt in das Areal der Welpen gewährt, läuft das Menschenherz dann vollends vor Wärme über.
Ein Spaziergang allein mit einem Schlittenhund sorgt fürs erste Gespür für die Tiere und die Überzeugung von deren großer Sanftmut. Zugegeben: Sind dann fünf laufwillige Hunde mit großer Hilfe von Carolina endlich vor den Schlitten gespannt, kommt schon etwas Nervosität auf. Gleichgewicht halten, bremsen, Befehle geben. Doch bald ist man wie eins mit den flinken zwanzig Pfoten, der Schneelandschaft voller Wälder, gefrorener Seen und friedlicher Weiten. Die Tränen der Rührung verwandeln sich auf dem Gesicht zu Eis. Gräbt Outdoor-Tausendsassa Hasse dann in der Wildnis ein Schneeloch, macht Feuer und zaubert einen frisch gebratenen Rentierburger hervor, ist die Welt endgültig in Ordnung.
Doch keine Zeit zum Träumen, denn das nächste köstliche Abenteuer wartet bereits. Eisfischen. Um den einsamen See Prästorrsjön, einer unter den zehn im nahen Anglerparadies Resele, zu erreichen, heißt es, sich auf das Schneemobil zu schwingen. Nach kurzer Gas-Bremse-Unterweisung geht’s gleich mit Hasse als Vor- und Carolina als Nachhut dahin. Nur Schnee unter den Kufen, von wilder Natur umgeben, über gefrorene Seen dahingleitend, kommt das Gefühl der großen Freiheit auf. Bevor Leif Johansson, Fischer, Jäger und Snowmobile-Champion in Personalunion, eindrucksvoll Löcher ins dicke Eis zum Fang von Hecht, Forelle & Co. bohrt, serviert er am Lagerfeuer Barsch auf Knäckebrot und einen unvergesslichen Elchburger. Die Anreise zu ihm hat sich also auf alle Fälle höchst rentiert – auch ohne persönlichen Fischfang.
Über all das Erlebte lässt es sich mit Blick in den Sternenhimmel im brandneuen luxuriösen, kuschelwarmen Glas-Iglu des innovativen Touristikers Nayiem Willems sinnieren. Ganz Mutige lädt er auch gerne in den heißen, aber von empfindlich hohen Minusgraden umgebenen Wildnis-Whirlpool ein. Der Lohn für diese Heldentat könnten immerhin Polarlichter sein.
Dass Innovationsgeist hier in der kalten Luft zu liegen scheint, beweist auch Börje Norberg, eine Art Spiegelbild nordischer Abenteuerlust. Mit ihm im riesengroßen und ebenso schweren Snowmobile kilometerlang über den schneebedeckten See Betarsjön – nein, nein, der bricht nicht ein – zu flitzen, um seine von ihm gebaute Welteninsel „Galaxen“ inmitten des gefrorenen Gewässers zu erreichen, gleicht fast einer faszinierenden Reise durch die Milchstraße. Auf dem 300 Quadratmeter großen Floß mit hippem Restaurant angekommen, fühlt man sich schließlich tatsächlich wie in anderen Sphären.
Für mehr Bodenhaftung sorgt Håkan Westin, fern jeglicher Abgehobenheit. Er gibt seinen Gästen in seinem Adventure Camp die Freude am Langlaufen weiter, in klassisch schwedischer Manier. Man muss sich schon etwas länger mit ihm unterhalten, um herauszufinden, dass er zwei Mal den weltberühmten traditionellen 90-Kilometer-Skilanglaufmarathon, den Wasalauf, gewonnen hat.
Mit etwas Hartnäckigkeit erfährt man vielleicht auch noch, dass er ein Nachkomme des im 16. Jahrhundert regierenden schwedischen Königs Gustav Wasa ist, auf den die historischen Wurzeln des Laufs zurückgehen. Die Tätowierung „Auf den Spuren der Vorfahren für zukünftige Siege“ lässt dann aber keine Zweifel mehr aufkommen. Wird man von Håkan als Österreicher erkannt, so outet er sich schließlich auch als einstiger Sieger des „Dolomitenlaufs“ in Osttirol. In Schweden prahlt man nicht – spätestens jetzt weiß man das.
Höhenflüge an Begegnungen mit Natur, Mensch und Tier gibt es an der „Hohen Küste“ unendlich viele. Geschwärmt wird darüber am besten bei der „Fika“ – der klassischen schwedischen Kaffeestunde mit Zimtschnecke, „Kanelbulle“ genannt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, draußen im Schnee oder drinnen, zum Beispiel im gemütlichen Wintercafé auf der Farm von Carolina und Hasse. Bis es wieder heimwärts geht, um für neues Erhebendes im Sommer gleich wiederzukommen. Dann, wenn sich Backsjön in die nördlichste Tulpenzwiebelfarm der Welt verwandelt hat.
Regina Rauch-Krainer