Quarantäne. Wurde dieses Wort noch vor einem Jahr mit Gruselfilmen und Arztserien in Verbindung gebracht, hat es sich 2020 im Sinne einer persönlichen Erfahrung der Abgeschiedenheit ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch das erste Kollektiv, das sich in den letzten Jahrhunderten gemeinsam in Quarantäne begeben musste, waren wir definitiv nicht.
Vor der Nordküste Kretas liegt, wie einem Bildband entsprungen, die Insel Spinalonga. Vom Ort Plaka aus bietet sich ein herrlicher Blick auf die kleine Insel mit ihren venezianischen Befestigungsanlagen, die nahe der Küste von Schiffen umkreist wird. Hier brechen sich in weißen Schaumkronen die dunkelblauen Wellen an den hellen Felsen der Inselküste. Doch was nach einem mediterranen Traumziel aussieht, war bis in die 1950er-Jahre für Viele gelebter Albtraum.
Eine fünfminütige Bootsfahrt setzt von Plaka zum kleinen Hafen der unbewohnten Insel über. „Dieses Jahr ist natürlich wenig los. Aber normalerweise sind jedes Jahr Unmengen an Touristen hier“, erzählt Reiseführerin Irene. Und sie muss es wissen: Seit rund 50 Jahren bringt sie immer wieder Gruppen aus aller Welt nach Spinalonga. Und sie alle wollen eins: Sich ansehen, wohin im vergangenen Jahrhundert jene Griechen verbannt waren, die an Lepra erkrankt waren.
Wer sich Zeit nimmt, um alles zu erkunden, hat die 8,5 Hektar kleine Insel mit ihren verfallenen Häusern und Befestigungsanlagen in einer Stunde umrundet. Nachdem Spinalonga von Venezianern und Osmanen als strategischer Ort genutzt worden war, waren ab 1904 Leprakranke und deren Angehörige hier unter Quarantäne gestellt.
In Österreich hatte spätestens Ende April dieses Jahres jeder Bekanntschaft mit Lockdown-Langeweile gemacht: Netflix und Social Media waren quasi leergeschaut. Für die Kranken auf Spinalonga wären das reine Luxusprobleme gewesen, denn Möglichkeiten zum Zeitvertreib gab es so gut wie keine – aber dafür haufenweise Steine. Das ließ die Griechen auf der Insel kreativ werden. An verschiedenen Stellen der Insel kann man graffitiartige Einritzungen auf Mauern entdecken, genauso wie in Stein geritzte Schach- und Mühlebretter. Auch Theater wurde gespielt.
Während der Lockdown für uns nach 50 Tagen vorüber war, war für viele der Verbannten damals kein Ende in Sicht. Nicht wenige trieb die Isolation zur Verzweiflung, was sich in Fluchtversuchen äußerte: Wo heute die Urlauber im Meer plantschen, schwammen damals Menschen um ihre Leben, um nach Kreta zu entkommen. Erst Ende der 1940er-Jahre zeigten neue Medikamente gegen die Infektionskrankheit ihre Wirkung und Geheilte durften die Insel verlassen.
Heute nehmen Besucher die Insel sehr unterschiedlich wahr: „Österreicher spazieren locker und interessiert über die Insel. Aber wenn ich griechische Reisegruppen habe, sieht man, dass sich viele hier unwohl fühlen – als könnte man sich heute noch anstecken“, erzählt Irene. Das kollektive Gedächtnis scheint trotz Traumstrand nicht so schnell zu vergessen.