Letzte Rosen blühen, die Trauben sind gelesen, die Blätter der Reben strahlen in der Nachmittagssonne in kräftigem Rot und Gold. Der Blick schweift weit ins Land. Unterhalb des Abhangs liegt ungarisches Territorium, dahinter fällt der Blick auf österreichische Wiesen und Wälder. Hoch über Felsöcsatár stehen wir vor dem Eisernen Vorhang.
Wo Sándor Goják wohnt, war einmal das Ende der Welt. Heute betreibt er das „Zaun-Museum“, es ist sein ganzer Stolz. Zwischen 1965 und 1968 hat er selbst am Grenzzaun gedient. Heute hat er es sich zum Anliegen gemacht, Relikte aus einer Zeit zu präsentieren, die einmal den Alltag im Land an der Grenze prägten, Dinge, die man „aus der Geschichte weder streichen noch richtig erklären kann“.
Stacheldraht & Stolperdrähte
Der Stacheldraht, die Minen, die Stolperdrähte. Daneben eine Nachbildung des Orbán-Zauns, gekrönt von Rollen mit rasiermesserscharfen Schneiden, an der Grenze zu Kroatien als Sperre errichtet gegen Flüchtlinge, die nicht aus dem Land hinaus, sondern nach Ungarn hineinwollten im Jahr 2015.
Der Iron Curtain Trail führt Tausende Kilometer die ehemalige Grenze zwischen Osten und Westen entlang, von der finnischen Barentssee bis ans Schwarze Meer. Wir radeln von Berg an der Grenze zur Slowakei bis nach Jennersdorf, von wo sich der Weg weiter in Richtung Slowenien zieht. Rund 70 Kilometer pro Tag – eine Woche lang sind wir unterwegs. Mit dem Zug nach Schwechat, von dort nach Petronell nebst Stippvisite in die Römerzeit, und die Auslaufstrecke von Jennersdorf nach Graz, die man auch per S-Bahn zurücklegen kann.
Die Weite der Ebene, Grenzflüsse und Steppenseen, bestens präparierte Radwege, perfekt ausgeschildert als EuroVelo Route Nummer 13, diesseits und jenseits der Grenze. Der Weg führt zwischen Österreich und Ungarn hin und her, über eine Vielzahl kleiner Grenzübergänge, zumeist gar nicht besetzt. Manchmal lugt ein österreichischer Soldat im Assistenzeinsatz hinter einem Busch hervor. Corona bleibt auch hier nicht ohne Folgen: Seit Ungarn seine Grenzen offiziell schloss, bleibt der Balken auch hier meist zu. Für den Grenzradler kein Problem, jede Route lässt sich auch auf nur österreichischer Seite fahren.
Historische Begegnungen
Immer wieder wird die Fahrt über die sanften Hügel von Stopps an Schauplätzen historischer Begegnungen unterbrochen. In Berg, wo nach 1945 Hunderte Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei versorgt wurden; in Nickelsdorf, das 1989 Tausende Flüchtlinge aus der DDR passierten; beim Wachturm in Andau, wo 1956 eine Brücke für Tausende Ungarn, die vor den russischen Panzern flohen, der rettende Weg in den Westen war; bei Sopron, wo eine Gedenkstätte an das paneuropäische Picknick 1989 erinnert, das das Ende der DDR einläutete.
„Abbruch 1989“ – mit der Entfernung der Überwachungsanlagen endet auch die Geschichte, die Sándor Goják von seinem Leben an der Grenze im Weinberg erzählt.
Claudia Gigler