"Dort weht ein berühmter Wind", wissen die Engadiner über ihren Luxus-Skiort St. Moritz. Klingt poetisch, ist aber durchaus wörtlich gemeint – pünktlich um 12 Uhr weht (fast) täglich eine steife Brise durch das Dorf. Ein Dorf, das städtischer ist als manch größerer Ort. Der berühmte Wind weht nämlich auch metaphorisch durch St. Moritz.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts reisen die Reichen und Schönen, und zwischendurch auch viele normale Leute, regelmäßig in den Südosten des Kantons Graubünden. Idyllisch liegen dort, am passend benannten St. Moritzersee, die beiden Ortsteile St. Moritz-Dorf und St. Moritz-Bad. Die Schönheit der Natur lockt ebenso wie die Exklusivität, statt Würstelstand und Billig-Swatch sind hier Kaviar-Bars und Breitling angesagt.
Mit dem Zug zum Gletscher
Wer sich in der High Society von St. Moritz nicht wohl fühlt, muss nur am (sehr sauberen) Bahnhof in die Rhätische Bahn steigen. Hier zeigen die Schweizer, dass alle Vorurteile bezüglich ihrer Pünktlichkeit wahr sind – auf die Minute genau wird man auf der historischen Bahnstrecke durch Graubünden kutschiert. Der Ausblick alleine rechtfertigt eine Fahrt, die rote Bahn durchquert ein malerisches Tal nach dem anderen. Aber auch die Haltestellen haben es in sich.
So gibt es etwa einen Bahnhof direkt am Fuße der Diavolezza: Dieses Joch in den Bernina-Alpen reicht auf 2972 Meter in die Wolken – ist aber zugänglicher als mancher leichte Wandersteig. Man muss sich nur vom Bahnhof zur Seilbahn schleppen, keine 500 Meter, und schon fährt man gemütlich in die Höhe. Oben bietet sich ein atemberaubendes Panorama inklusive Gletscherblick. Und bei der Rückfahrt ins Tal beweist der Seilbahnwart Humor und spielt den Song „Free Fallin‘“.
Die Rhätische Bahn fährt über den Berninapass bis ins italienische Tirano, zwischen Pass und Landesgrenze liegt das Puschlav – lokal Val Poschiavo genannt. Hier ist man zwar noch in Graubünden, das Puschlav fühlt sich aber an wie eine eigene Welt. „Unser Tal ist nur 25 Kilometer lang, umfasst aber drei unterschiedliche Klimazonen“, berichtet Kaspar Howald, Direktor des Puschlaver Tourismusverbandes. „Von mehr als 2200 Höhenmetern am Berninapass fällt das Val Poschiavo auf nur mehr 550 Höhenmeter im Süden ab.“
Diese Eigenart führt dazu, dass ein Tal, das nur zwei Gemeinden mit insgesamt knapp 5000 Einwohnern umfasst, beinahe autark leben kann. Dazu gehört aber auch eine starke Einheit, weiß Howald: „Wir sind sehr abgeschirmt vom Rest Graubündens. Man braucht mehr als zwei Stunden in die Hauptstadt Chur und dann sprechen die Leute dort auch noch eine andere Sprache.“ Offiziell ist das Puschlav italienischsprachig, eigentlich ist die lokale Mundart „Pus’ciavin“ aber ein lombardischer Dialekt.
"Kräuterkraft" aus der Schweiz
Weder richtig die Schweiz noch bereits Italien – das Puschlav eben. Und die Puschlaver leben diese eigene Identität, Unabhängigkeit ist ihnen wichtig. „Daraus entstehen dann Kampagnen wie etwa ,Cento Percento’, übersetzt ,Hundert Prozent’“, so Howald. Dabei handelt es sich um ein Zertifikat für Betriebe, die (fast) ausschließlich regionale Produkte verwenden. „Nur, was wir hier nicht herstellen können, darf zugekauft werden.“ Das ist aber gar nicht viel – im Val Poschiavo werden schließlich sogar die berühmten Ricola-Kräuter für die gleichnamigen Zuckerl angebaut.
Georg Tomaschek