In den letzten Tagen ist unsere Welt durch das Coronavirus gefühlt kleiner geworden. Das österreichische Außenministerium hat eine weltweite Reisewarnung erlassen. Grenzen werden geschlossen. Bahnhöfe, Flughäfen und Straßen sind verwaist. Was macht das mit uns?
HARRIET KÖHLER: Was „Fridays for Future“ nicht geschafft haben, schafft jetzt ein kleines Virus: Plötzlich ist es ganz leicht, auf Flugreisen zu verzichten. Ich glaube, dass darin auch eine Chance liegt: nämlich zu schauen, ob man es zu Hause wirklich nicht aushält und ob es tatsächlich so schlimm ist, wenn man von den „1000 places to see before you die“ ein paar Hundert nicht besichtigt.
In den letzten Jahrzehnten ist Reisen für uns selbstverständlich geworden. Ein Grundbedürfnis. Warum ist es heutzutage ein so abwegiger Gedanke, im Urlaub daheimzubleiben?
KÖHLER: Gute Frage. Vielleicht, weil wir alle so gestresst sind, dass wir uns gar nicht vorstellen können, in unserer alltäglichen Umgebung Entspannung zu finden? Vielleicht auch deshalb, weil wir unsere nähere Umgebung für nicht abenteuerlich oder exotisch genug halten – und eine Welt, die man für nicht sonderlich bemerkenswert hält, die ist das dann in der Folge natürlich.
Wie kann man das Daheimbleiben, das die Corona-Krise für uns alle derzeit notwendig macht, in einen Erfolg verwandeln?
KÖHLER: Ganz einfach gesagt: indem man versucht, das Gute darin zu sehen. Endlich hat man Zeit, all die Dinge zu tun, für die man sonst immer seltener den Nerv hat: Zeit mit der Familie verbringen. Kontakt mit alten Freunden aufnehmen. In aller Ruhe kochen. Einen dicken Buchklassiker lesen. Nichts tun, ohne dabei ständig auf den E-Mail-Eingang zu schielen.
Zu Hause lebt man oft im immer gleichen Trott. Wie kann man beim Daheimbleiben trotzdem aus dem Alltag ausbrechen?
KÖHLER: Indem man Dinge tut, die man sonst nur im Urlaub tun würde: schick zu Mittag essen, mit Aperitif, Digestif und all den Herrlichkeiten dazwischen – das ist eine Abkürzung in die Entspannung. Sich für eine Nacht ins feinste Hotel der Stadt einbuchen und so einen anderen Eingang in die vertraute Umgebung nehmen. Oder, wenn wir bald wirklich alle unter Quarantäne stehen: eine Zimmerreise unternehmen und all den Krimskrams der eigenen Wohnung betrachten wie ein Tourist einer fernen Kultur. Aus China gibt es Youtube-Videos, wie Eltern ihren Kindern eine Touristenführung durch das eigene Zuhause geben und damit unfreiwillig einen Trend fortführen, den es schon mal am Anfang des 19. Jahrhunderts gab, als Bücher über Zimmerreisen den Buchmarkt überschwemmten wie heute Regionalkrimis oder Papabücher.
Lässt man sich am besten treiben oder sollte man sich gezielt etwas vornehmen?
KÖHLER: Am besten ist es bestimmt, für jeden Tag ein Highlight einzuplanen, aber unter Stress setzen sollte man sich nicht. Nicht, dass der Urlaub zu Hause am Ende doch noch stressiger als eine Fernreise wird!
Viele haben das Nichtstun verlernt, wir sind es gewohnt, dass ständig etwas passiert. Wie verhindert man, dass einem langweilig wird?
KÖHLER: Ach, ein bisschen Langeweile im Urlaub ist doch nichts, wovor man weglaufen muss. Noch in den 1950er-Jahren war die drittliebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen: aus dem Fenster gucken. Eigentlich doch eine super Übung. Einfach zulassen, dass einmal nichts Aufregendes passiert – ist das nicht sogar wohltuend in diesen Zeiten?
Kann Urlaub zu Hause erholsamer sein, als wenn man in die Ferne fährt?
KÖHLER: Auf alle Fälle! Denn man spart sich ja nicht nur einen Haufen Geld, sondern auch den ganzen Stress der Vorabrecherche und natürlich der An- und Abreise und hat damit sogar noch mehr Zeit zur Erholung. Denn man ist ja bereits angekommen, und das schon lange.
Man sollte das Positive an der derzeitigen Situation herausstreichen: Gibt es Vorteile, die man nur bei einem Urlaub zu Hause hat?
KÖHLER: Man hat immer die passende Kleidung im Schrank. Regentage muss man nicht im klammen Hotelzimmer verbringen, sondern hat eine Kuscheldecke und ein Sofa. Und für mich persönlich der allergrößte Vorteil: Ich habe immer mein eigenes Kopfkissen. Was ich schon auf unbequemen Kissen wach gelegen habe!
Es zieht uns in die Ferne, um Dinge zu sehen, die für einen neu sind. Gibt es auch welche, die man nur daheim erleben kann?
KÖHLER: Etwas, das man definitiv nur zu Hause hat: die Gelegenheit, herauszufinden, was das Leben außerhalb des Alltags noch so für einen bereithält. Man kann das Fremde im scheinbar Vertrauten entdecken, den Wohnort mit den Augen eines Reisenden sehen, und die Abenteuer erleben, die direkt vor der eigenen Haustür liegen – und dabei merken, dass man sein Leben auch nach der Corona-Krise vielleicht ja auch ganz anders führen könnte.