Irgendwann hat er aufgehört zu zählen, wie oft er den steilen Waldpfad die gut 400 Höhenmeter vom Meeresniveau hinauf aufs Hügelplateau schon gegangen ist. Aber im Laufe seiner 80 Lebensjahre ist schon einiges zusammengekommen. „Früher haben wir im Winter oft wochenlang unten am Meer gelebt, weil oben das Wetter zu unwirtlich war“, erinnert sich Brasil Moisés. Heute komme er zumindest noch jedes Wochenende, erzählt er, zieht seinen Schnauzbart in ein breites Lächeln und serviert ein Glas selbst gekelterten Rotwein. Zapffrisch vom Fass aus dem Erdkeller der Steinhütte, Geschmacksnote „grundehrlich“.
Bis zu 2000 Liter Rebsaft liefern die Stöcke, die auf Moisés' kleinem Grundstück neben Gemüse aller Art wachsen. Beim Nachbarn? Eine ähnliche Geschichte, dieselbe Gastfreundschaft, die gleiche önologische Geschmacksexplosion.
Die überschaubare Ansammlung von Hütten und Häusern, Grasflecken und Beeten und das dazwischen labyrinthartig aufgespannte Wegenetz erinnern an eine kreativ angelegte Schrebergartensiedlung. Nur die Lage ist spektakulärer und einzigartig: auf der einen Seite der tiefblaue Atlantik, auf der anderen eine zwischen 400 und 700 Meter hohe Steilküste, die sich als urwaldgrüne Wand aus Bäumen, Sträuchern, Blumen und Büschen aufgebaut hat.
Dazwischen ein schmales, durch Hangrutschungen oder Lavaflüsse entstandenes Küstenband, dessen kleine Landzungen und Lagunen als Fajãs bezeichnet werden.
An der Nordküste von São Jorge sind sie besonders sehenswert, was sie zwar längst nicht mehr als Geheimtipp für Wanderer durchgehen lässt, aber ... pssst: Abseits der Hauptsaison trifft man auf den wildromantischen Wanderwegen von Serra do Topo hinunter zur Faja da Caldira de Santo Cristo und weiter entlang der Küste fast niemanden. Vor allem wenn sich oben entlang des Gebirgsrückens, der sich wie eine Wirbelsäule über die 53 Kilometer lange, aber nur wenige Kilometer schmale Insel spannt, eine abschreckend dichte Nebeldecke gelegt hat.
Manchmal gesellen sich auch noch ein salziger Sprühregen und deutlich kühlere Temperaturen dazu. Ein Kleinklima, das die Hecken zu floristischen Miniparadiesen und die kräuterüberwachsenen Wiesen zu einem Feinschmeckerrestaurant für Kühe macht, deren Milch dem weltbekannten Käse seine exquisite Würze gibt. 30.000 der Vierbeiner soll es auf der von nur 9000 menschlichen Zweibeinern bewohnten Insel geben.
São Jorge reiht sich damit in puncto Größe und Bevölkerungszahl im Mittelfeld der neun Azoren-Inseln ein. Die genaue Lage der Inselgruppe weit draußen im Atlantik kennen zwar die wenigsten, ihren Namen verbinden aber die meisten mit etwas Positivem: gutem Wetter - dem „Azorenhoch“ sei Dank. Tatsächlich hat das Hochdruckgebiet, das sich in diesem Teil des Nordatlantiks zusammenbraut, gemeinsam mit dem Islandtief einen entscheidenden Einfluss auf die Großwetterlage Mitteleuropas.
Diese klimawirksame Kraft spürt man in konzentrierter Form auch direkt auf der Insel: „Der typische Azoren-Mix bedeutet, dass wir jedes Wetter binnen 30 Minuten haben können“, fasst Oliver die Spezialität seiner Wahlheimat zusammen. Seit 15 Jahren lebt der gebürtige Niederösterreicher hier und führt Wandergruppen kenntnisreich zu den schönsten Plätzen der Inseln. So ergibt sich am Ende einer zehntägigen Insel-Hopping-Tour ein buntes Gesamtbild einer Inselgruppe, deren Einzelteile zwar ähnlich, aber nie gleich und vor allem an lokalen Besonderheiten nicht arm sind.
Ganz im Westen, auf Corvo, der kleinsten Azoren-Insel, füllt der Caldeirão die Foto-Speicherkarte: ein Riesenkrater des inseldominierenden Vulkans, mit über drei Kilometer Durchmesser, in dessen Mitte man absteigen kann. Dieses „Wow“-Erlebnis, wenn auf halbem Weg die Wolkendecke aufreißt und die Kraterseen in der Sonne funkeln, muss man sich aber mit einer wackeligen (und nicht immer ganz trockenen) Überfahrt in einem flinken Motorboot von der Nachbarinsel Flores erst verdienen. Als Zugabe werden allerdings spektakuläre Felsformationen entlang der Steilküste und der Wasserfälle, die direkt ins Meer stürzen, geliefert.
Mit dem Flugzeug geht es am nächsten Tag weiter nach Faial. Der Hafen des Inselhauptorts Horta ist nicht nur Standort von einem von nur drei Krankenhäusern der Azoren (Hausgeburten sind verboten, werdende Mütter müssen von anderen Inseln rechtzeitig per Boot kommen oder eingeflogen werden). Horta, Sitz des Regionalparlaments der seit 1976 autonomen Region Azoren, ist auch beliebter Zwischenstopp auf den Atlantiküberquerungen abenteuerlustiger Hochseesegler. Die auf die Betonziegel der Hafenmauern gemalten, farben- und motivreichen Erinnerungsbilder zeugen vom polyglotten Publikum, das sich abends meist vor dem „Café Sport“ trifft, einer Bar in der es angeblich den besten Gin Tonic zwischen Europa und Amerika gibt (wobei die Konkurrenz überschaubar und das Getränk selbst mit seinem legendären Ruf nicht mithalten kann).
Dafür ist der Gastgartenausblick auf den Bilderbuch-Vulkankegel des Pico auf der gleichnamigen Nachbarinsel unbezahlbar. Mit 2351 „echten“ (weil direkt von Meeresniveau aus startenden) Höhenmetern ist er der höchste Berg Portugals und beliebtes Wanderziel. Zwar darf man Auf- und Abstieg durch das teils lose, spitzkantige Vulkangestein vor allem an sonnigen Tagen aufgrund von hundertprozentigem Schattenmangel nicht unterschätzen, für alpenerprobte Bergfexe ist aber nur die kurze Kraxlerei unter dem Gipfel etwas anspruchsvoller. Belohnt wird man mit 360-Grad-„Wow!“-Ausblicken.
Die Serie an Aha-Momenten lässt sich zu ebener Erde - oder besser: auf flachem Wasser - nahtlos fortsetzen. Dabei kann man seinen Wanderschuhen eine kurze Pause gönnen und auf spritzwassertaugliche Sandalen umsatteln. In Horta, aber auch in Vila Franca auf der Hauptinsel São Miguel warten hochseetaugliche Schlauchboote, die mit Gästen zu Walbeobachtungsexkursionen ausrücken.
28 verschiedene Wal- und Delfinarten tummeln sich in den Gewässern vor den Azoren, vier davon sind ganzjährig da, wobei die Pott- und Buckelwale als „Stars des Resorts“ gelten, mit viel Glück und ausreichend Geduld aber auch die bis über 30 Meter langen Blauwale gesichtet werden können. Vor allem im Frühjahr, wenn die Riesentiere auf ihrer Reise Richtung Norden hier einen „Boxenstopp“ einlegen, liegen die Chancen gut, erzählt Philip. Er sitzt in einer der etwas erhöht an der Küste aufgestellten Walbeobachtungshütten und presst seine Augen an ein Spezialfernglas. Über Funk gibt er Sichtungen an die Zentrale durch.
Aber auch auf São Miguel muss man die obligate Wanderroute auf einen erloschenen Vulkankegel samt Kratersee (Lagoa do Fogo) nicht missen. Wie thermisch aktiv das Gebiet immer noch ist, sieht man im Vale das Furnas, wo an allen Ecken heißes Wasser aus der Erde sprudelt. Wow!
Klaus Höfler