Der Fingernagelmond hängt etwas schief zwischen den Weiden. Seidenreiher schreien ihr kurzes, durchdringendes Krächzen in den Nachthimmel. Die Cumulus-Wolken ziehen silbern. Und unsere Minuetto 8 wankt ein bisschen, obwohl sie gar nicht so ausgelassen vom Pinot Grigio gekostet hat wie wir. Steht mehr auf Diesel.
Das vorletzte Mal, als wir in der Nähe Hausboot fuhren, schrieben wir: „Appartement mit Blick aufs Mehr. Mehr Stille, mehr Vielfalt, mehr Verborgenes.“ Dabei sind wir diesmal noch gar nicht beim Mehr, beim Meer. Wir ankern noch am Ufer des Sile, der sich durch Venetien schlängelt. Von dessen magischem Verlauf hatten schon Dante Alighieri und Francesco Petrarca geschwärmt, und der aus dem nahen Treviso stammende Schriftsteller und Journalist Giovanni Comisso (1895-1969) dichtete über den 95 Kilometer langen Fluss: „Die sanften Biegungen des Sile, so grün in seinem gemächlichen Dahinfließen, sind mit grazilen Trauerweiden bestanden, die sich zitternd neigen, um das Wasser zu streicheln.“
Sile. Silentium: schweigen, ruhig sein. So will es die Etymologie. So wollen es wir. Also schweigen wir mit. Und streicheln mit, nachdem wir zu unserem Ankerplatz zurückgekehrt sind vom Ristorante Corte in der Villa Odino, einem alten Herrenhaus in Quarto d'Altino, das früher venezianische Bischöfe und Adelige nutzten. Von Adel sind wir freilich nicht und dennoch Königskinder, die zum Beispiel Branzinofilet auf Spargel tafeln dürfen und am nächsten Morgen Kurs nehmen können auf die Lagune von Venedig.
Gut, Leonardo DiCaprio war seinerzeit auf der „Titanic“ der „König der Welt“, und Hollywood-Queens wie Meryl Streep oder Scarlett Johansson lassen sich, wie gerade derzeit wieder, mit schnittigen Wassertaxis vom Aeroporto zu den Filmfestspielen an den Lido bringen. Wir aber wollen erstens eh nicht untergehen und gondeln zweitens nach der einzigen Schleuse in Portegrandi mit herrlich unschnittigen 12 km/h Richtung Venedig.
Wer mit dem Hausboot in die Lagune kommt, umschifft das touristische Forte der Serenissima und geht es am besten schön piano an. Nicht nur, wenn er das erste Mal außerhalb der Badewanne Kapitän ist. Selbst Routiniers haben Respekt vor dem wunderbaren Revier. Das Befahren des Canal Grande und anderer Wasserwege direkt durch die Hauptinsel ist aus naheliegenden Gründen und wohl auch aus Selbstschutz ohnehin untersagt.
Aber es genügt schon die permanente Rush Hour von Vaporetti, Motorjachten, Fischkuttern, Lastkähnen und Gondeln direkt vor den Giardini, dem Dogenpalast oder dem Markusplatz, um Schweißperlen auf der Stirn zu bekommen, und schon gar, sollte eines der Kreuzfahrtmonster auftauchen.
Mit dem Hausboot kann man in der Lagune fantastisch „Inselhüpfen“, vom Glasbläserparadies Murano im Norden bis zu den „Inseln der Schmerzen“ im Süden, auf denen früher Quarantäne-Stationen oder psychiatrische Anstalten lagen. Wir lassen diese aber ebenso links oder rechts liegen wie Torcello, wo die Basilica di Santa Maria Assunta mit fantastischen Mosaiken und der gruselig anschaulichen Darstellung des Jüngsten Gerichts lockt. Vorbei auch an Burano mit seinen wie auf Kinderzeichnungen bemalten Häusern und seiner sciroccoschiefen Kirche San Martino.
Unser „Zielhafen“ für ein Picknick an Deck heißt San Francesco del Deserto. Dort soll einst Franz von Assisi auf dem Rückweg von seiner Predigerreise im Osten Station gemacht haben. Heute leben auf der winzigen Klosterinsel, die keine Vaporetto-Linie anfährt, nur noch sieben Franziskanermönche.
Auch die zweite Klosterinsel in der Lagune steuern wir an: San Lazzaro degli Armeni. Das weltweit bedeutendste Zentrum der armenischen Kultur öffnet täglich um exakt 15.25 Uhr die Tore für Besucher, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus, welche Schätze der Mechitaristenorden pflegt: fantastische Elfenbeinschnitzereien etwa. Oder eine 2700 Jahre alte ägyptische Mumie. Und eine fantastisch bestückte Bibliothek mit fast 200.000 Handschriften und Druckwerken, darunter zum Beispiel ein „Reisebericht“ Napoleons nach seinem Ägyptenfeldzug 1798 bis 1801.
Eine spezielle Kultur lässt sich auch genießen, wenn man nahe der Vaporetto-Station Sant' Erasmo mit dem Hausboot vor Anker geht. Weinkultur nämlich. Gleich nebenan hat sich vor 25 Jahren Michel Thoulouze niedergelassen, „wegen der schönen Aussicht“, wie er mit Blick hinüber auf die Skyline von Venedig neckisch sagt. Der Südfranzose war Medienexperte gewesen und hatte rund 50 Sender gegründet, darunter Canal+, bis er sich hier ein Gut kaufte. Auf Karten aus dem 17. Jahrhundert entdeckte er, dass auf der Gemüseinsel, berühmt für ihre castraure, junge, zartbittere Artischocken, seinerzeit Wein angebaut wurde.
Sogar gute Freunde hielten Thoulouze für einen Spinner, weil er wieder Weinstöcke setzte. Heute ist der 74-Jährige der einzige hauptberufliche Winzer Venedigs und keltert eine leichte Cuvée aus Malvasia Istriana, Vermentino und Fiano. Von den bis zu 18.000 Flaschen jährlich lässt er 360 Magnumflaschen vier, fünf Jahre lang in einem speziellen „Keller“ reifen - auf dem Grund der Lagune, an einem geheimen Ort, im Sandolo, einem Boot mit flachem Rumpf. Bouteillen dieser Limited Edition gehen an so exquisite Adressen wie das Plaza Athénée von Alain Ducasse in Paris.
Wir kosten den Orto di Venezia. Wäre schön, jetzt hier unter der Platane zu liegen. Oder - besser noch - drüben auf dem Bug des Hausboots, ein gutes Glas in der einen, ein gutes Buch in der anderen Hand. Vielleicht „Der Löwe, die Stadt und das Wasser“ von Cees Nooteboom, der schreibt, dass man sich in Venedig auf Gondeln durch die Kanäle schaukeln lassen kann, „als hätte man dort unten auf dem Wasser die gesamte Stadt wie einen Umhang um sich drapiert“.
Oder noch lieber den Klassiker schlechthin: „Ufer der Verlorenen“ von Joseph Brodsky. Darin schwärmt der Literaturnobelpreisträger von 1987 über das unvergleichliche Venedig: „Das Einzige, was diese Stadt des Wassers übertreffen könnte, wäre eine in die Luft gebaute Stadt.“ Aber dann müssten wir ja ein Luftschiff statt eines Hausboots nehmen.
Michael Tschida