Zumindest dunstverhangen musste der Himmel sein, um J. M. William Turners Mindestansprüchen an Schönheit gerecht zu werden. Je spektakulärer eine Landschaft und je schattenreicher ein Idyll, desto anziehender war es für den britischen Maler.

Wer jemals in Luzern in der Schweiz am Ufer des Vierwaldstättersees gestanden ist und seinen Blick nach oben zu den Bergen gerichtet hat, den wundert nicht, dass Turner von Luzern fasziniert war. Die Vollkommenheit dieses Ausschnitts, das Ping-Pong-Spiel von Licht, Wasser, Alpen und Stadt ist schlicht erhaben. 1802 reiste Turner erstmals in die Zentralschweiz.

Der Mann mit dem Faible für die großen Katastrophen kam, beobachtete und skizzierte. Beschaulich vom Hotel Schwanen aus (dem heute charmanten Café de Ville) analysierte er die Rigi in unterschiedlichstem Licht und schipperte bei seinen Besuchen von 1841 bis 1844 mit dem ersten Dampfschiff über den See. Aus den Skizzen wurden leuchtende Aquarelle und depressive Ölgemälde.

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Turner weitete den Blick für die Landschaft als widerspenstiges Sujet: Felsen stürzen ab, die Gischt spritzt hoch und Wolken türmen sich zu Ungetümen auf. „Turner – Das Meer und die Alpen“ heißt die neue Ausstellung im Kunstmuseum Luzern, die die rund 100 Leihgaben aus Großbritannien und der Schweiz gut 200 Jahre später an den Ort ihres Entstehens bringt.

Wem die Schlachten und Naturkatastrophen an den Wänden zu abstrakt sind, der wagt einfach einen Blick nach draußen, verfolgt die abwechslungsreiche Dramaturgie des Himmels und vergewissert sich, dass Turner ein Meister der Elemente war. Dennoch: „Oben auf der Rigi war er nie“, erzählt Kurator David Blayney Brown.

Landschaftsmalerei revolutioniert

Wäre J.M.W. Turner nicht 1775, sondern im 21. Jahrhundert geboren, er hätte wohl den Begriff Influencer in seinen Social-Media-Profilen stehen. Denn: Er revolutionierte nicht nur die Landschaftsmalerei, sondern fungierte auch als Alpenbotschafter. Mit ihm kam der Tourismus nach Luzern. Um diesen muss man sich keine Sorgen machen: Unfassbare 797.953.020 Schweizer Franken haben Übernachtungsgäste in der Region Luzern-Vierwaldstättersee 2018 ausgegeben.

Den Großteil machen die geschätzten acht Millionen Tagesgäste aus, 83 Prozent davon sind Schweizer. Die meisten werden Selfies vor dem Löwendenkmal, auf der Kapellbrücke, von der begehbaren Stadtmauer oder vom Bündnerfleischverkosten am bezaubernden Wochenmarkt versenden. Und natürlich vom See.

Wer wirklich in die Landschaft eintauchen will, lässt auf keinen Fall „Die Goldene Rundfahrt“ aus, bei der man zunächst mit dem Dampfschiff übers Wasser schaukelt. Wer erlebt, wie sich die Schönwetterwolken plötzlich verdunkeln, sich Wellen aufbäumen und verlorene Boote schräg stellen, der glaubt schnell, sich stilecht in einem Werk Turners wiederzufinden. Diesen Service kann man allerdings nicht buchen.

Spektakuläre Ausblicke

Weiter in der Runde: In Alpnachstad in die steilste Zahnradbahn Europas steigen und sich nach oben auf den Pilatus auf 2132 Höhenmeter ziehen lassen. Der Tourismus wirbt mit dem Berg der 2132 Möglichkeiten. Das ist zwar ein bisschen zu euphorisch, aber neben spektakulären Ausblicken bis zu Jungfraujoch, Eiger Nordwand oder Jura-Gebirge böten sich noch der sagenumwobene Drachenweg, ein Seilpark, die drei Gipfel Tomlishorn (2132 m), Oberhaupt (2106 m) sowie der Esel (2118 m) zur Kurzbesteigung an oder ein Spaziergang zur Steinbockkolonie und deren Hintern, die im Fels hüpfen.

Am schönsten ist es am Pilatus, wenn die letzten Bahnen ihre Talfahrt angetreten haben und man sich in aller Ruhe der bestmöglichen Aktivität hingibt: bei einem Apero mit Almkäse aus der Region auf die umliegenden Berge schauen. Eine himmlische Tat, die nur von einer Nacht im Hotel Pilatus mitsamt Dinner unter Kronleuchtern im pompösen Queen-Victoria-Saal getoppt wird. Queen Victoria erreichte 1868 auf dem Rücken eines Ponys den Pilatus. Ein bisschen königlich fühlt man sich da oben auch. Genauso wie unten am See. Ob die Luzerner damals schon bei jeder Lichtstimmung in den See hüpften oder bis 1900 auf das Seebad warteten, ist nicht überliefert. Wenn nicht, haben sie aber definitiv etwas verpasst.

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