Betty geht nicht baden. Auf ihrem Weg zurück von Elizabeth Castle an die Esplanade holpert das hellblaue Amphibienfahrzeug trockenen Reifens. Ein Stück herrlich süßen Victoria Sponge Cake im kleinen Café der Festung vor St. Helier zuvor ist sie mit uns an Bord noch ans andere Ufer geschwommen. Das Meer darf man auf den Kanalinseln auch wirklich keine Minute aus den Augen lassen. Warum auch, so tief türkis wie es sich auf Jersey an die Vorzeigestrände von St. Brélade oder St. Ouen's Bay schmiegt, wo man sich am Mittelmeer wähnt?

Aber das Wasser ist nicht nur zum Anschauen da. Kaum ein Kontinentaleuropäer vermutet im vermeintlich verregneten Großbritannien so mildes Klima, das Palmen, meterhohe Natternköpfe, feurig gefärbte Fackellilien und andere exotische Gewächse ganz selbstverständlich gedeihen lässt. Zu Weihnachten blühen die Kamelien - was für ein Fest.

Und so wird auf dem Eiland mit rund 100.000 Einwohnern auch gerne der klassische Badeurlaub zelebriert, wobei man da bei maximal 20 Grad Wassertemperatur schon recht hartgesotten sein muss. Surfer stürzen sich im Schwimmzeug in die Wellen und auch die Kinder hält die Temperatur vom Planschen nicht ab. Sie bestellen sogar noch ein Eis dazu. Das ist auf der Insel wie alle Milchprodukte eine Offenbarung und hat mit den berühmten Kühen zu tun. Aber dazu später.

An diesem Strand sind die Kinder besonders artig. In Reih und Glied sitzen sie auf ihren Bänken und machen ihre Schularbeiten: Sie wachsen. Die Austern nämlich. Im glasklaren, aber nährstoffreichen Ärmelkanal finden sie ideale Bedingungen dafür. Wenn der dritthöchste Tidenhub der Welt den Meeresspiegel in der Royal Bay of Grouville um bis zu zwölf Meter in die Knie zwingt, kann man ihnen dabei zusehen. Tourguide Trudie verordnet dennoch Gummistiefel, denn die von der Ebbe frisch freigelegten und in der sinkenden Sonne glitzernden Sandsicheln liegen nur allzu rasch wieder Land unter.

„Deshalb steht auf halber Strecke ein Rettungsturm. Manchmal werden Wattwanderer von der Flut überrascht“, sagt die gebürtige Augsburgerin, während sie Algen vom Meeresboden zupft wie aus einem Gemüsebeet. Auch Krebse, Muscheln und mit Glück sogar Hummer könnte man dort einfach aufklauben. Schwelgen im Überfluss. In der viktorianischen Markthalle von St. Helier eifern die leuchtenden Panzer der fangfrischen Krustentiere mit den glänzenden Schuppen der Fische um die Wette, die überall auf den Speisekarten stehen.

Das nahende Wasser und der Hunger treiben uns zurück an Land, wo im Seymour Inn schon ausgewachsene Austern warten, die eben noch die Schulbank gedrückt haben und nun zubereitet auf unseren Tellern liegen. Nur sehr widerwillig händigt der Kellner die bestellte Tabasco-Soße aus. „Aber bitte nicht schlürfen“, serviert er als Rezept, „einfach kauen.“ Sonst ist man mit einem Schluck als Tourist enttarnt.

Für viele ist es mehr als nur ein Besuch: Wenn man schon ins Exil gehen muss, dann sind die Kanalinseln eindeutig erste Wahl. Das dachte sich auch Romancier Victor Hugo, der 1855 sein Schreibpult zunächst auf Jersey und dann auf der Schwesterinsel Guernsey aufstellte. Im quirligen Hauptort St. Peter Port bewohnte er Hauteville House (heute ein Museum), vollendete „Les Misérables“ und erdachte „Die Arbeiter des Meeres“. Von seiner Kreativwerkstatt im Dachgeschoß des Hauses hatte er schließlich einen fantastischen Blick auf den Hafen und die Fischer, wenn sie ihren Fang an Land brachten.

Und diese Fischer waren kratzfest: Die traditionellen Strickpullover der Guernseyer aus Schafwolle sind vermutlich schrotkugelsicher, wunderwarm und wasserabweisend, aber rauer, als es so manchem angenehm ist. Inzwischen gibt es sie auch aus weicherer Baumwolle für alle, deren Haut nicht von Wind und Wetter gegerbt ist. Bei Le Tricoteur werden die Strickwaren jedenfalls noch wie früher hergestellt, den Seemannsgarn dafür spinnen Damen überall auf der Insel in ihrem Zuhause. „Maria Stuart hat bei ihrer Hinrichtung Socken aus Guernsey getragen“, erzählt man uns stolz ... Wenigstens hatte sie ganz bestimmt keine kalten Füße.

Die Kanalinseln sind ein Bollwerk des Englischseins wenige Kilometer vor der französischen Küste. Obwohl sie gar nicht zu Großbritannien gehören (und damit auch nicht zur EU). Jersey und Guernsey sind voneinander unabhängige Staaten mit eigenen Parlamenten, Geld und Briefmarken. Darauf blickt man meist in die Augen von Staatsoberhaupt Elizabeth II. Allerdings nicht in ihrer Funktion als Königin des United Kingdom, sondern als Herzogin der Normandie. Schrecklich schön schrullig.

Und während man sich noch wundert, steht man auch schon vor dem kleinsten geweihten Gotteshaus der Welt. So klein, dass der Bischof beim ersten Anlauf nicht durch die Türe passte. Die „Little Chapel“ ist keine fünf Meter lang, mit Muscheln und bunten Porzellanscherben verziert. Ein ausgewachsener Mensch nach dem anderen zwängt sich hinein, beobachtet von den gemächlich ihr Gras zermahlenden Kühen am benachbarten Weidezaun.

Das Stichwort ist gefallen: „Die Guernsey-Kühe sind die hübschesten der Welt. Und sie geben die beste Milch“, sagt Inselinsider Scott. Auf Jersey sagt man haargenau dasselbe über die dortigen Kühe. Ein Tipp: Nicken Sie einfach. Darüber werden sich die beiden in ständigem sportlichen Wettbewerb stehenden Inselvölker seit Jahrhunderten nicht einig. Die einen werden Donkeys (Esel) genannt, die anderen Toads (Kröten). Liebenswert sind sie alle.

Und außerdem haben sie beide recht: Die Milch hüben wie drüben ist weißes Gold mit mehr als fünf Prozent Fettgehalt. Und damit auch alles, was aus ihr gemacht wird. Wie das Eis im Stanitzel, die Clotted Cream auf den Scones, der Käse auf dem Brot, die Butter auf den famosen Früherdäpfeln, den Jersey Royals, um die es jedes Jahr ein Griss gibt.

Bewusst klein sind die Stückzahlen der Flaschen von Hochprozentigem, die Luke Wheadon verkauft. Dafür ist es dem ehemaligen Küchenchef gelungen, die Essenz der Inseln in seinem Gin zu destillieren. Die kristallklare Flüssigkeit tropft im familiengeführten Hotel Bella Luce mit angeschlossenem Restaurant aus glänzenden Kupferkolben. Im großen Schwenker schwurbelt der Geschmack von Algen und Meerfenchel direkt von den felsigen Küsten, wo die salzige Gischt ihn besonders gut gedeihen lässt. „Ich möchte meine Heimat im Glas einfangen“, sagt der erdverbundene Spirituosenkünstler.

Die Jersey Royals rascheln dazu verheißungsvoll in ihrem Papiersackerl im Handgepäck.

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